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Drachenkinder

Drachenkinder

Titel: Drachenkinder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hera Lind
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bewachen; trotzdem wurden Zement und Stahl von Männern aus dem Nachbarort geklaut. Es kam zu einer Schießerei zwischen Katachelern und den Dieben. Einer wurde am Fuß getroffen und musste nach Taluquan ins Krankenhaus. Kaum wieder genesen, so berichtete uns Dadgul, kostete ihn das Gerichtsurteil der Scharia wegen Diebstahls und Weglaufens sowohl die Hand als auch den gerade geheilten Fuß.
    »Das sind ja Sitten wie im Mittelalter!«, empörte sich Micki.«Erst flicken sie einen Kerl wieder zusammen, dann hacken sie ihm den Fuß ab!« Er stieß ein zynisches Lachen aus. »Die Kosten hätten sie sich sparen können!«
    »Micki, konzentrier dich lieber auf die Dinge, die wir schon geschafft haben!« Ich hielt ihm die Bilder von der Schule, dem Brunnen und der Brücke vor die Nase.
    »Du meinst, wo gehobelt wird, fallen Späne?«
    »Wo geklaut wird, fallen Füße!«, ließ sich mein pubertierender Simon vom Fernseher aus vernehmen.
    Ich überhörte seine unpassende Bemerkung. »Und hier, die neuesten Fotos von Dadguls Kindern. Na? Entwickeln sie sich nicht prächtig?«
    »Das nennst du prächtig? Was ist denn mit der Kleinen los?« Micki betrachtete Anissa, die Sechsjährige, und schüttelte den Kopf. Er nahm seine Brille ab und klopfte mit dem Bügel auf das Foto. »Die hat ja gar keine Zähne mehr!«
    »Wo gehungert wird, fallen Zähne.« Simon konnte es einfach nicht lassen
    »Simon, jetzt ist aber Schluss! Dein schwarzer Humor in allen Ehren!«
    »Und keine Haare«, mischte sich Vanessa ein. »Das arme Mädchen hat ja eine Glatze!«
    »Lieber Himmel, was könnte das denn sein? Das arme Ding sieht wirklich mitgenommen aus! So grau im Gesicht!«
    »Ferndiagnose per Foto. Na, dann mal los, Frau Doktor Schnehage«, witzelte Micki und strich mir über den Rücken. »Pest, Cholera, Typhus?«
    »Lepra«, murmelte Simon und ließ die Beine baumeln.
    »Kinder, ich vermute mal, es sind Würmer.« Entschlossen stand ich auf. Bei unserem lieben Freund Martin hol ich mir ein Rezept, die Apotheke dürfte noch auf haben.«
    »Offen haben«, verbesserte Simon mich.
    »Junge, du gehst mir aber heute gründlich auf die Nerven!«
    Schon wühlte ich in meinem Portemonnaie. Noch während ich meine Sachen zusammensuchte, hörte ich, wie Simon einen Ausländerwitz erzählte: »Kommt ein Deutscher nach Bergfeld und fragt einen Afghanen: »Wo geht es hier nach Aldi?« Sagt der Afghane: ZU Aldi. Sagt der Deutsche: Scheiße, Aldi hat schon zu.«
    Trotz aller Hektik musste ich doch breit grinsen, als ich »zu Apotheke« fuhr.
    Es waren tatsächlich Würmer. In Massen verließen sie nach der Wurmkur Anissas zarten Kinderkörper. Nach Wochen wuchsen ihr wieder Haare. Und was für welche!
    »Na bitte, Sybille. Ferndiagnose Heilerhexe!« Micki klopfte mir anerkennend auf den Rücken, als er die neuen Fotos von Anissa sah.
    »Mann, die hat ja Wolle auf dem Kopf!«, meinte Simon sarkastisch. »Jetzt müsst ihr nur noch eine Heckenschere nach Katachel schicken!«
    »Und Zähne hat sie auch wieder«, las ich aus Dadguls Brief vor. »Jetzt muss sie nicht mehr Dadguls Brei essen.«
    Statt einer Heckenschere schickten wir vom Verein viele Wurmkuren nach Katachel und bezahlten einen afghanischen Arzt dafür, dass er sämtliche Schulkinder regelmäßig einer solchen Kur unterzog. Einfache Sybille-Regel: »Hat’s einer, kriegen’s alle.« Der »Arzt« war eher ein Krankenpfleger, aber er war in der Lage mit unseren Hilfsgütern wie Blutdruckmessgerät, Stethoskop und Mikroskop zur Malariabestimmung umzugehen. Und was wollten wir mehr?

21
    Als Dadgul das nächste Mal im Lande war, hielten wir wieder Diavorträge. Inzwischen konnten wir nicht nur von dem ganzen Elend berichten, wie beim ersten Mal, als wir ausschließlich Bilder aus dem Flüchtlingslager in Peshawar zu bieten gehabt hatten, sondern von wirklich tollen Fortschritten. Wir konnten beweisen, dass Katachel e . V. etwas taugte, etwas bewirkte. Wir konnten unseren bisherigen und zukünftigen Spendern die Ergebnisse unserer Arbeit klar vor Augen führen. Zahlreiche Vorher-nachher-Fotos wurden von Dadgul durch den Diaprojektor geschoben: Anissa vorher – Anissa nachher. Aus dem mageren, graugesichtigen, zahnlosen Glatzkopf war ein strahlend schönes, lebensfrohes Geschöpf mit geradezu beneidenswerter Haarpracht und schneeweißen Zähnen geworden.
    Oder die Schule: Vorher ein überschwemmter Lehmplatz, nachher vier saubere Zimmer, in denen zweihundert Kinder in adretten Schuluniformen saßen und

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