Drachenkinder
sprang nicht an. Schweißgebadet spähte ich zum Bullauge hinaus. Was machten die denn da? Ein Lastwagen gab Starthilfe. Zwanzig Männer diskutierten, gestikulierten, schrien, sprangen beiseite, als der Flieger hustend eine Rauchwolke ausstieß. Na bitte. Angesprungen. Bis in die Passagierkabine stank es nach Abgas.
Na toll. Wir flogen. Allah wollte es so.
Ankunft in Kabul. Ich hatte es geschafft! Zum ersten Mal im Leben betrat ich afghanischen Boden – bisher war ich schließlich immer nur im pakistanischen Peshawar gewesen! Das Gepäck lag in einem großen Haufen auf dem Förderband. Das Förderband bewegte sich nicht. Es war kaputt. Ich suchte meine Sachen zusammen und schleppte mich zur Passkontrolle. Der alte Kontrolleur in zerschlissener Uniform begrüßte mich höflich auf Deutsch. Seit der Regentschaft von Kaiser Wilhelm II . und König Amanullah, also seit den Zwanzigerjahren, verband Afghanistan und Deutschland eine Freundschaft, und in der deutschen Schule in Kabul sprachen die Lehrer mit sächsischem Akzent, da die Kommunisten die DDR als Partner bevorzugten.
So, geschafft! Ich wurde in einem Riesenpulk von Afghanen in langen weißen Hemden, mit Turbanen und Bergen von Gepäck unter Begrüßungsgeschrei und chaotischem Tumult nach draußen gespült. Meine Augen suchten nach Dadgul. Sicherheitshalber zog ich mir das Kopftuch tiefer ins Gesicht. Taliban überall.
Da, da stand er! Er winkte und lief auf mich zu. Wir umarmten uns lieber nicht. Aber er war da. Ich fühlte mich geborgen.
Kabul sah aus wie eine Totenstadt. Alles war öde und verlassen. Der Riesenplatz im Zentrum war wie leer gefegt. Ab und zu knatterte mal ein alter VW Käfer durch die schmutzigen, aufgerissenen Straßen. Am Straßenrand saß einsam ein Mann, der getrocknete Rosenzweige mit einer Schere in kleine Stücke schnitt und sie verkaufte. Er sah alt aus, verknittert, obwohl er wahrscheinlich erst fünfzig war.
»Brennmaterial für die Küche, zum Heizen«, erklärte mir Dadgul.
»Hoffentlich können wir morgen nach Kunduz weiterfliegen!« Von Kunduz waren es noch dreihundertdreißig Kilometer mit dem Auto nach Katachel: Dadguls Heimatdorf, unser Projekt, unser Lebenswerk.
In dieser Nacht schlief ich auf Anraten des Außenministeriums im Interconti -Hotel – ein Riesenbau oberhalb der Stadt, der auch schon mal bessere Zeiten gesehen hatte. Es war der 1. März 1998. Meine Mutter hatte heute Geburtstag und passte auf meine Kinder auf. Ich schickte ihr liebevolle Gedanken. Dann presste ich die Stirn an die Fensterscheibe und schaute auf das dunkle, kalte Kabul. Es lag Schnee, und mein Hotelzimmerfenster war gesprungen und nur mit einer Plastikfolie zugeklebt.
Da unten startete gerade im Stockdunklen die Maschine nach Kunduz. Dieselbe, die wir hoffentlich morgen nehmen würden. Flüge waren nur nachts möglich, da die Maschinen tagsüber beschossen wurden. Auch die Landung in Kunduz würde im Dunklen erfolgen: Die Piste, die als Landebahn diente, würde nur von Autoscheinwerfern erhellt werden, hatte mir Dadgul erklärt.
Ich streckte mich auf dem feuchten Bett unter der muffigen, klammen Decke aus. Es krabbelte überall. Zum Ekeln hatte ich keine Zeit. Ich musste schlafen. Morgen würde ich eine lange, abenteuerliche Reise vor mir haben.
Ein magerer, dunkelhäutiger Hausangestellter in zerschlissener Livree saugte penetrant vor meinem Zimmer Staub. Da Dadgul und ich die einzigen Gäste im ganzen Hotel waren, wusste ich, was er wollte: Bakschisch . Er nervte mich, er sollte Leine ziehen! Ich versuchte Dadgul in seinem Zimmer anzurufen, aber das Telefon war kaputt. Also quälte ich mich wieder aus dem Bett, verhüllte mich, stapfte an dem saugenden Turbanträger vorbei und klopfte an Dadguls Tür.
»Kannst du dem Typen sagen, er soll verschwinden?! Ich will schlafen!«
Danach herrschte Totenstille im Hotel. Es war eiskalt im Zimmer. Irgendwann fiel ich in einen unruhigen Schlaf.
»Scheiße, Mama, schlechte Nachrichten!«
» WAS ?«
Hastig setzte ich mich auf, als Dadgul ins Zimmer stürmte.
»Kunduz wird von Raketen beschossen, wir haben keine Chance, nach Katachel zu kommen!«
»Ich WILL aber nach Katachel!« Wütend boxte ich auf die kratzige Wolldecke ein, sodass Staub und Milben mir nur so entgegentanzten. Mir schossen Tränen in die Augen. Ausgerechnet jetzt, so dicht vor dem Ziel!
»Es geht einfach nicht.« Dadgul schüttelte den Kopf. »Du musst über Pakistan zurückfliegen. Alles andere wäre der reinste
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