Drachenklänge
mir, dass ihr im Weyr übernachten würdet, als es so spät wurde und ihr immer noch nicht zurück wart«, sagte sie, als sie sie in die Burg hinein begleitete. »Ihr beide seht richtig abgekämpft aus … Hat alles gut geklappt? Meine Güte, Merelan, Sie strahlen, als hätten Sie etwas besonders Schönes erlebt. Brauchen Sie vielleicht noch etwas? Ich glaube, heute gehe ich nicht mit Ihnen die Treppe hoch.« Sie stieß einen leisen Seufzer aus und fächelte sich mit der Hand Luft zu. »Ich hatte gehofft, dieses Mal käme das Kind pünktlich …«
Merelan sprach der Burgherrin ihr Mitgefühl aus
und versicherte ihr, dass sie mit allem versorgt seien.
Dann begab sie sich mit Robie in ihr Quartier. Als Lady Hayara außer Sicht war, ließ Merelan die Schultern hängen.
»Singen kann sehr anstrengend sein«, meinte sie, als sie ihre Räume betraten. »Ach!«
Beide sahen die große Rolle auf dem Tisch, die eine Botschaft enthielt. Das blaue Band, das sie zusammen-hielt, verriet, dass sie von der Harfnerhalle stammte.
Einen kurzen Augenblick lang zögerte Merelan, dann nahm sie die Rolle, zerbrach das Siegel und setzte sich an den Tisch. Vorsichtig entrollte sie die Nachricht, die aus mehreren Notenblättern bestand. Robinton sah, wie seine Mutter blass wurde, und ihre Hände zitterten leicht, als sie den an die Blätter gehefteten Brief las.
»Nein, dein Vater hat diese Botschaft nicht geschickt.« Nach einem flüchtigen Blick auf die Noten las sie den Brief zu Ende. »Es war Meister Gennell.
Reich’ mir doch bitte mal meine Gitarre, Robie.«
Er holte die Gitarre aus ihrem Kasten und gab sie ihr, verwundert über die Hektik, die seine Mutter plötzlich an den Tag legte. Erst in diesem Moment ver-180
gegenwärtigte er sich, dass sie, seit sie in Benden weilten, keine einzige Komposition seines Vaters gesungen hatte. Weder hier in der Burg noch droben im Weyr trug sie seine Werke vor, dabei war sie vermutlich die einzige Sängerin auf Pern, die das erforderliche stimmliche Volumen besaß, um diese höchst komplexe Musik zu interpretieren. Als er sah, wie sie in ihrer Nervosität vergeblich versuchte, die Notenblätter zu glätten, die sich immer wieder zusammenrollten, hielt er die Ränder mit den Händen fest.
Merelan spielte einen Akkord, hielt inne, stimmte die Saiten ein wenig nach und begann von neuem.
Mitten in der Melodie hob sie verwirrt und überrascht den Blick von den Noten.
»Das klingt so ganz und gar nicht nach deinem
Vater …« Mit gespannter Miene prüfte sie die Noten.
»Aber es ist eindeutig seine Handschrift«, stellte sie fest und spielte weiter.
Robinton verfolgte das Stück und blätterte die Seiten um. Einmal hätte er um ein Haar vergessen, die Noten mitzulesen, so ergriffen war er von der melan-cholischen, in Moll gehaltenen Weise. Als der Schlussakkord verklang, tauschten Mutter und Sohn bedeutungsvolle Blicke. Merelan schien verstört zu sein, wie Robinton bestürzt bemerkte. Er hoffte inständig, seiner Mutter gefiele die Melodie genauso gut wie ihm.
»Ich möchte behaupten«, begann sie, »ohne Widerspruch befürchten zu müssen …« – sie hob leicht die Mundwinkel –, »dass dies die ausdrucksstärkste
Musik ist, die dein Vater je geschrieben hat.« Sie um-schlang ihre Gitarre mit beiden Armen. »Ich glaube, er vermisst uns, Robie.«
Robinton nickte. Normalerweise komponierte sein
Vater eine aggressivere Musik, die eine positive Stimmung implizierte. Seine Werke quollen über vor verschlungenen, phantasievollen Variationen, wilden Ka-181
denzen und bravourösen Passagen. Diese Melodie
hingegen drückte auf eine schlichte, elegante Weise eine wehmütige, das Herz anrührende Sehnsucht aus.
Wieder nahm Merelan Meister Gennells Brief in die Hand. »Das schreibt auch Meister Gennell. ›Ich finde, du solltest dieses Werk zu Gesicht bekommen, Merelan. Die Hinwendung zum Lyrischen ist unverkennbar. Meiner Meinung nach das Beste, was er je geschrieben hat, obwohl er der Letzte wäre, der dies zugeben würde.‹« Merelan lachte leise. »Er würde es niemals zugeben, Gennell.« Sie sah ihren Sohn an. »Wie lautet dein Urteil, Robie? Was hältst du von dieser Musik?«
Er rang nach den passenden Worten. »Gibt es einen Text dazu?«
»Nein, aber du kannst ja einen schreiben. Dann
wäre es eine Gemeinschaftsproduktion von Vater und Sohn. Wer weiß, vielleicht die erste von vielen …«
»Davon halte ich nichts«, erwiderte er nach reiflicher Überlegung, obwohl er sich
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