Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
Boden.
Warum gerade hier? fragt sich Marigg, und verblüfft stellt er fest, daß ihn diese Frage nach dem Warum und Woher bisher noch gar nicht interessiert hat. Für ihn war nur wichtig: Dort ist ein Wesen, und dieses Wesen ruft mich.
Aber warum ist es dort, und woher kommt es? Überlebende? Unsinn. Alles wäre denkbar, nur nicht, daß die Rettungsmannschaften vor fünfunddreißig Jahren auch nur einen einzigen Menschen hier zurückgelassen hätten. Ausgeschlossen – die Klinik wurde zuerst abgesucht, weil man gerade dort die Hilfsbedürftigsten vermutete. Allerdings konnte niemand den Leuten helfen, die dort lagen. Sie waren alle verbrannt, so stark war die Felswände durchdringende Glut der Sonne gewesen…
Man hatte sogar die Bunker mit den Labors und Substitutionsaggregaten untersucht und die Kryokaverne mit den Lebensmitteldepots. Nur dort wäre ein Überleben möglich gewesen, weil durch das Beben eine Trennwand zwischen den Kühlhallen und den unteren Klinikbunkern eingestürzt war und die eisige Kälte aus den Lagern mit den tiefgefrosteten Nahrungsmitteln die mörderische Hitze so weit abschwächen konnte, daß man die Katastrophe hätte überstehen können. Aber die wenigen, denen sich diese Chance bot, sahen sie nicht, sie stürzten sich in ihre Cataphracte und rannten nach draußen, heraus aus den zur tödlichen Falle werdenden Räumen, die sie unter einstürzenden Decken und Wänden zu zermalmen drohten.
Nein, dort unten hat niemand überlebt. Der Fremde ist kein Mensch, weder Terraner, Epser noch Elloraner – Marigg weiß es genau, denn er spürt deutlich die andere Struktur des Gedankenfeldes, die der menschlichen Vernunft zwar stark ähnelt, aber doch von ihr verschieden ist.
Marigg läßt den Lander behutsam sinken. Die teilweise unversehrte Oberfläche kann trügen. Unter ihr befinden sich ausgedehnte Hallen und Tunnelsysteme, und niemand weiß, wo die Spannungen und Instabilitäten im Fels so groß sind, daß schon ein menschlicher Fuß genügte, Hunderte von Quadratmetern Fläche lautlos in die Tiefe stürzen zu lassen.
Er hat nicht vor, hier zu landen. Aber er muß eine Möglichkeit finden, auf dem kürzesten Weg unter die Oberfläche zu gelangen: Sein Sauerstoffvorrat ist zwar reichlich bemessen, doch nicht unerschöpflich.
Vorsichtig schwebt Marigg den Spalt entlang. Das gibt es nicht! durchzuckt es ihn plötzlich. Dort unten ist Licht! Marigg geht noch tiefer. Tatsächlich, er kann es genau erkennen: Aus einem aufgerissenen Tunnel leuchtet es matt!
Mit schnellem Griff schaltet er sich eine Ausschnittvergrößerung auf den Bildschirm des Steuerpults, wirft noch einmal einen Blick durch die Kanzelverglasung und schwenkt die Optik der Videoelektronik ein wenig.
Der Spalt durchtrennt wie ein schräger Schnitt den Gang. Die eine Hälfte liegt in tiefster Finsternis, die andere aber wird noch von den auf wunderbare Weise verschont gebliebenen Leuchtbändern erhellt.
Marigg vergrößert den Bildausschnitt ein weiteres Mal und sieht, daß es nur ein Leuchtband ist, das noch funktioniert. Durch einen dummen Zufall muß das Kabel so gerissen sein, als der Spalt den Tunnel auseinandersprengte, daß sich die Pole nicht berühren. Die anderen Lichtquellen sind dunkel.
Marigg schüttelt den Kopf. Beinahe hätte er das Leuchten im Schatten des Spalts für eine Reflexion des blendend hellen Sonnenlichts gehalten. Sein Blick wandert zum äußersten Ring, wo die zersprungenen Spiegel der Sonnenkraftwerke liegen. Irgend etwas in diesem Wirrwarr aus geborstenen, zerfetzten und geschmolzenen Anlagen funktioniert also noch.
Wahrscheinlich hat sich damals niemand die Mühe gemacht, den Hauptschalter für diesen Komplex zu suchen, wozu auch…
Marigg geht noch tiefer, um weiter in den Stollen hineinsehen zu können. Er schaltet das Autogonium auf vollautomatischen Betrieb, weil in dieser Position das leiseste Zittern seiner Hand den Absturz herbeiführen könnte. Dann richtet er die Kameraaugen in die Tiefe des Tunnels und schreit überrascht auf. Ein rotes Schott! Also befindet sich hier eine Schleuse! Wenn die Stromversorgung auch hinter dieser Schleuse noch funktioniert, dann gibt es dort Luft, Licht, erträgliche Temperaturen – und vielleicht doch Überlebende?
Nein, nein, nein! hämmert sich Marigg ein. Das ist kein Mensch wie wir, ich spüre es doch!
Er schraubt den Handschuh des Cataphracts ab und greift nach dem Flacon mit dem Elixier. Seine Hand zittert unmerklich, als er sich den dritten
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