Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
läßt es sich in ihrem Geäst hervorragend klettern, aber sie bevorzugt die Fortbewegung in waagerechter Richtung.
Hendrikje steckt sich eine Qualle in den Mund und lutscht andächtig. Wenigstens hat sie heute ein halbes Dutzend Keimlinge ergattern können, obwohl ihr eigentlich nur zwei Stück zustehen und ihre Wartenummer mit den Ziffern des nächsten Jahres endet. In Vorbereitung irgendwelcher Jubiläen geschehen eben immer wieder Wunder. Und daß sich ein hübscher junger Mann – keltisch Gamma plus, ein wahrhaftfaszinierendes Äußeres – erbot, sich mit ihr gemeinsam anzustellen, um ihr seine Zuteilung abzugeben, brachte ihr nicht nur unerwarteten Reichtum an Plusterfarnkeimlingen, sondern versüßte ihr die fast zweistündige Wartezeit obendrein mit ausgesucht artig vorgetragenen Schmeicheleien. Als sie dann dem Facharbeiter für Warenverteilung unauffällig zwei Karten für die demnächst stattfindenden Meisterschaften der Laserfechter zusteckte, da nahm ihr Glück beinahe kosmische Dimensionen an und bescherte ihr zwei weitere Keimlinge. Eigentlich fing der Tag doch wunderbar an, aber was dann kam… Sie versucht noch einmal, sich an das Gesicht des galanten Schmeichlers zu erinnern.
Irgendwie wird Hendrikje das lästige Gefühl nicht los, beobachtet zu werden. War es ein hastig niedergeschlagener Blick inmitten des Ameisenhaufens vor ihr oder der Atemhauch eines Menschen in ihrem Rücken?
Als ein Amigo am Straßenrand hält, der Fahrgast aussteigt und niemand Anstalten macht, das leere Fahrzeug zu erobern, spuckt sie die ausgesogene Qualle aus und springt auf. Sie sieht sich prüfend um, aber entdeckt niemanden, der ein auffälliges Interesse zeigt, und nun ist sie beinahe ein wenig enttäuscht. Beim Einsteigen schaut sie sich noch einmal um, und daher entgeht ihr wohl das unscheinbare Signal auf der Bereitschaftsanzeige des Amigos. “Reganta-Urbanidum”, befiehlt sie und lehnt sich zurück.
Aus der Maschine kommt ein mißmutiges Schnaufen, die gewaltigen Muskelpakete zucken nur ein wenig, und dann ächzt es verstimmt: “Nichts da! Ich habe jetzt Mittagsruhe, können Sie nicht lesen? Immer diese Störungen…”
Hendrikje seufzt ergeben, da ist nichts zu machen. Diese organischen Mechanismen benötigen eben ihre regelmäßigen Ruhepausen, um den Organismus zu entschlacken und zu regenerieren.
Neben ihr quietschen die Reifen eines anderen Fahrzeugs. “Steigen Sie ein, Bürgerin Greiff! Ich habe mit Ihnen zu reden.”
Durch den barschen Ton verwirrt, gehorcht sie der Aufforderung widerspruchslos. Erst kann sie das Gesicht des Mannes durch die getönte Windschutzscheibe nicht erkennen, dann, schon halb im Fahrzeug, versteinert sie förmlich. Hermel Goff! “Setzen Sie sich.” Er zieht sie am Arm in die Sitzpolster.
Der Amigo spannt die Muskeln an und jagt in einer gewagten Schlängellinie in die mittelste der neun Spuren. Goff kommt ohne Umschweife zur Sache. “Sie haben Erkundigungen über mich eingezogen, obwohl Sie wissen, was ein Vertrauensbruch für Folgen nach sich zieht. Also, was wollen Sie von mir?”
Hendrikje tastet mit zitternden Fingern nach einer Qualle, dann aber überlegt sie es sich und denkt: Nein, ich muß jetzt einen kühlen Kopf bewahren, sie haben es also gemerkt.
“Nehmen Sie ruhig eine, Sie können es ja doch nicht lassen. Vielleicht fällt es Ihnen dann leichter, eine Erklärung zu finden.” Seine Stimme ist kalt und höhnisch, wie es Hendrikje scheint, und sie fühlt eine magische Kraft aus ihr sprechen.
Artig steckt sie eine Qualle in den Mund und läßt das Etui wieder in der Brusttasche verschwinden. Dabei gerät ihr ein kleiner Gegenstand zwischen die Finger, und plötzlich hat sie den rettenden Einfall. “Ich…, ich wollte eigentlich nur das hier zurückgeben, der arme Stotzner hat es verloren, als Sie…, als Sie…” Sie bleibt stecken und spürt Tränen der Wut und Angst in sich aufsteigen.
Hermel Goff nimmt ihr die rubingefaßte Perle aus der Hand und betrachtet sie nachdenklich. Währenddessen mustert sie ihn heimlich und ist hin- und hergerissen zwischen Faszination und Abscheu. Die polynesische Exotik dieses ungewöhnlich schönen Gesichts erregt sie sogar körperlich, am liebsten würde sie mit den Fingerkuppen über die samtene Haut der Wangen und der Stirn streichen, in ihr vibriert es, und die während der ersten läppischen Lustspiele im Nesturbanidum erlernten Regeln kommen ihr in den Sinn: Gib deinen Bedürfnissen nach, aber zwinge sie
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