Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
seine wohlmeinenden Zurechtweisungen hüllt, und Hendrikje stellt sich insgeheim vor, er würde die rechte Hand in den Ausschnitt seiner Schmieggoldtoga schieben und mit der ausgestreckten linken einen schwungvollen Kreis beschreiben, aber dann fällt ihr auf, daß sich da zwei Bilder aus den Gewordensein-Unterweisungen vermengen, und gewissermaßen als Kompensation drängt die Szene vor dem römischen Senat in ihr Bewußtsein, als der Imperator von der aufgebrachten Senatorenmeute gemeuchelt wurde…
“Auch du, Hendrikje Greiff…”, hört sie Aberschwenz und zuckt zusammen, aber weniger aus Schuldbewußtsein wegen ihrer ketzerischen Phantasie als aus schmerzlichem Erwachen. Denn wie immer, wenn Aberschwenz zu seinen pädagogischen Reden ansetzt, sind auch diesmal ihre Gedanken auf ungehörige Art abgewichen und auf Reisen in ganz und gar unbedeutende Regionen gegangen. Aber sie zuckt auch, weil der General zum Du übergegangen ist, und das tut er für gewöhnlich nur, wenn alle Möglichkeiten der Superlativierung seines Referats erschöpft sind und trotz allem eine weitere Steigerung der Intensität seiner Offenbarungen vonnöten ist. “Auch du, Hendrikje Greiff, wirst eines Tages zu denen gezählt werden, deren Wirken solch tiefe Spuren im Werden unseres Gemeinwesens hinterläßt, daß auch die nachfolgenden…”
Es war also doch nicht so wichtig, konstatiert Hendrikje, die alte Masche. Sie zwingt den Ausdruck höchster Aufmerksamkeit auf ihre Körperoberfläche, um unter dieser schützenden Hülle den Gedanken freien Lauf zu lassen. Verdammter Schwätzer! flucht sie im stillen und folgt mit dem Blick artig dem auf- und niederhuschenden Zeigefinger Aberschwenzens. Ich habe die Arbeit, und er wird sich von Wohlmetz dafür tätscheln lassen.
“Derdegiderje, Kaderorganisator Greiff!” Aberschwenz verabschiedet sie mit leuchtendem Blick, noch ganz unter dem Eindruck seiner wuchtigen Deklamation stehend, und Hendrikje ist ein wenig mulmig zumute, denn von den letzten Minuten seiner Ansprache hat sie nur den aus Pathos und Geltungsdrang gemischten Grundton in Erinnerung. Hat er noch irgend etwas Substantielles gesagt? fragt sie sich unruhig. Oder noch konkrete Anordnungen gegeben? Die Unruhe klingt auch nicht ab, als sie sich mit der dutzendfach bestätigten Erfahrung tröstet, daß Aberschwenz in diesem Tonfall noch nie etwas Konkretes gesagt hat, in all den Jahren noch nicht, die er diesen Posten bekleidet…
“Derdegiderje, General!” trompetet sie, für einen Augenblick erlöst, aber noch bevor die Tür hinter ihr ins Schloß glitscht – mit einem beinahe genüßlichen Schmatzen, als bereite es ihr Vergnügen, die kaderpolitische Sakristei gegen alle Störungen abschirmen zu dürfen –, noch bevor dieses hochmütige Geräusch an ihre Ohren dringt, ist die Erlösung bereits stetig wachsendem Ärger gewichen.
Hendrikje zupft die Kragenzotten ihres Schmeichelmoosoveralls zurecht und hat dabei das gleißende Schmieggold vor Augen, in das sich Aberschwenz zu hüllen pflegt. Na ja, vielleicht gibt's ein paar Extrapunkte für mein Konfektionskonto, denkt sie, aber die rechte Freude an dieser Vorstellung bleibt ihr versagt, denn eine dumpfe Ahnung sagt ihr, daß es diesmal nicht so reibungslos verlaufen wird wie in vorangegangenen Fällen.
Erst als die farbigen Kurven und digitalisierten Daten der Personagramme über die Anzeigeschirme ihres Arbeitsplatzes flitzen, findet sie ihr Gleichgewicht. Es gibt eine über allem stehende Ordnung, sagt sie sich wieder einmal, erst wenn eine Person vollständig in der Datei erfaßt ist, wenn sie transparent und mathematisierbar geworden ist, gehört sie der Gemeinschaft als vollwertiges Mitglied an. Und nur die Gemeinschaft vermag zu erkennen, welche Fähigkeiten sich hinter scheinbar zusammenhanglosen Fakten verbergen, nur sie ist imstande, die Komplexität des menschlichen Wesens in dialektischem Zusammenhang mit der Gesamtheit zu sehen, den Platz für den einzelnen zu bestimmen. Und erst diese Erkenntnis macht aus uns wirklich freie Bürger dieser Welt, die erst dadurch zu einer wirklich freien Welt wird. Kann es denn Freiheit des Individuums in einem beschränkten, Zwängen ausgesetzten Gemeinwesen geben?
Dies alles geht Hendrikje durch den Kopf, während sie automatisch Daten abruft, vergleicht und einander zuordnet. Und erneut wird ihr bewußt, daß sie das alles eigentlich gar nicht so recht begreift, daß es eher ein irgendwie transzendentaler Magnetismus ist,
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