Drachenkreuzer Ikaros: Roman (German Edition)
den rankenden Pflanzen kaum zu ahnen ist, eine dunkle, geheimnisvolle Erinnerung aus, deren dominierendes Merkmal das Gefühl von Geborgenheit ist. Fast will es ihr wie eine Erinnerung an die Zeit scheinen, da sie noch längst nicht geboren war – aber sie wischt diesen unsinnigen Gedanken energisch beiseite.
“Ich muß jetzt gehen”, sagt sie müde, “Ergar wird ganz schön toben.” Eigentlich ist sie sicher, daß Ergar höchstens erstaunt die Augenbrauen hochziehen wird, denn bisher entlud sich seine Eifersucht immer nur dann, wenn wirklich kein Grund zum Mißtrauen vorlag. Wehe ihr, wenn sie in seinem Beisein einem anderen Mann zulächelt oder sich einfach nur neugierig nach einem ausgefallenen Phänotyp umdreht – dann macht er ihr auf offener Straße eine selbstspielreife Szene. Allein gelassen genießt sie im Prinzip absolute Freiheit, doch manchmal fragt sie sich, ob es nicht eher Gleichgültigkeit sei als Toleranz, denn wenn sie sich wegen einer Verspätung mit irgendeiner mehr oder minder phantasielos zusammengebastelten Geschichte herausredet, hört Ergar meist nur mit einem Ohr hin und erteilt ihr – spürbar ungeduldig – in der Regel schon die Absolution, bevor sie geendet hat.
So würde es auch heute sein, daran zweifelt Hendrikje nicht. Trotzdem treibt sie das schlechte Gewissen aus Goffs Plusterfarnbett. Und als er nach ihr greift, um sie festzuhalten, weicht sie geschmeidig aus.
Goff grinst schief, dann sagt er: “Bitte, warte ein paar Minuten, ich muß dir noch etwas sagen, Hendrikje.”
Sie streift ihren Schmetterlingstraum über und stöhnt enttäuscht auf: Vom Schillersmaragd ist nur ein häßlich graues, spinnwebartiges Ungetüm geblieben, und wie jedesmal tut es ihr plötzlich leid, dafür drei Raupen geopfert zu haben. “… weißt du immer noch nicht die volle Wahrheit. Es geht um ein gigantisches Vorhaben, Hendrikje, das großartigste Projekt, seit der Mensch auf zwei Beinen läuft.”
Sie hört kaum zu, sieht Goff nicht an. Seine Stimme wirkt längst nicht so aufregend auf sie wie vor wenigen Stunden. Und seine Projekte interessieren sie im Augenblick herzlich wenig. Ein bißchen schämt sie sich, als sie sich das eingestehen muß. Aber Hendrikje hat es längst aufgegeben, diesem rätselhaften Gefühl auf die Spur zu kommen, dieser Empfindung von Leere und Fadheit, die Erlebnissen wie dem der letzten Nacht für gewöhnlich folgt. Goff würde es noch weniger verstehen, wozu also darüber reden. Vielleicht ist das der Preis, den ihr Gewissen für die Duldung ihrer Gier nach einem ganz kleinen Glück fordert…
“… Der MOBS ist nur aus diesem einzigen Grund gebildet worden: die Menschheit zielgerichtet auf die Große Moralische Optimierung vorzubereiten. Warum soll uns nicht mit der Psyche gelingen, was wir mit der äußeren Erscheinung seit Jahrzehnten erfolgreich praktizieren? Aber dazu müssen wir erreichen, daß sich unsere Menschen voller Begeisterung zu den Zielen bekennen, die wir uns gesetzt haben…”
Hendrikje merkt unwillkürlich auf. Wohl ist es mehr die Eindringlichkeit, mit der Goff spricht, als das, was er sagt – doch irgendwie spürt sie Unheil heraufziehen.
“… Wenn wir die Neuen Moralischen Normen genetisch fixieren wollen, setzt das das Einverständnis aller Bürger voraus, sonst könnte es zu psychologischen Havariesituationen kommen. Massenhysterie zum Beispiel. Wir haben also geduldig Aufklärungsarbeit zu leisten, den Boden für die Saat zu bereiten. Ist das denn nicht eine großartige Sache: Wir koppeln die Urtriebe, wie Selbst- und Arterhaltungstrieb, vom Glücksempfinden ab und ersetzen sie durch Kreativität, durch Altruismus, Wissensdurst – wir veredeln die Partnerliebe zur wahren Nächstenliebe, das ist doch ein uralter Menschheitstraum.”
Goff läßt sich durch Hendrikjes albernes Kichern nicht aus der Fassung bringen, oder er nimmt es in seiner Begeisterung gar nicht wahr. Hendrikje stellte sich gerade vor, wie sie ein nie erlebter Orgasmus erbeben läßt – nachdem sie sich an ihren Arbeitsplatz gesetzt hat. Darauf läuft Goffs Geschwafel von Kreativität doch hinaus, denkt sie, und unwillkürlich erinnert sie sich an Überlegungen Ergars, die ganz ähnlich klangen und ihr trotz aller Gelehrsamkeit irgendwie imponierten: daß die Menschen ihre Zukunft in sich selbst trügen, daß sie ihre Bedürfnisse verändern müssen und damit sich selbst, denn sie seien die Herren ihrer Bedürfnisse, welche immer Schöpfungen und keine
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