Drachenläufer
wo sie mit der Familie Urlaub in Mexiko machen und das Geld verjuxen.«
»Farid!«, blaffte Wahid, und seine Kinder, ja sogar Farid zuckten zusammen. »Hast du deine gute Erziehung vergessen? Du bist in meinem Haus! Amir Aga ist mein Gast, und ich lasse nicht zu, dass du so sprichst.«
Farid öffnete den Mund, um etwas zu sagen, besann sich aber eines anderen und schwieg, murmelte nur irgendetwas in seinen Bart und lehnte sich zurück. Sein auf mich gerichteter Blick war voller Vorwurf.
»Verzeihen Sie uns, Amir Aga«, sagte Wahid. »Schon als Kind war mein Bruder mit seinem Mund zwei Schritte weiter als mit dem Kopf.«
»Wenn hier jemand um Verzeihung bitten muss, dann bin ich es wohl«, entgegnete ich und lächelte bemüht. »Ich hätte ihm längst erklären sollen, weshalb ich nach Afghanistan gekommen bin. Verkaufsabsichten habe ich jedenfalls nicht. Ich bin nach Kabul unterwegs, um einen Jungen ausfindig zu machen.«
»Einen Jungen«, wiederholte Wahid.
»Ja.« Ich zog das Polaroidfoto aus meiner Hemdtasche. Hassans Bild vor Augen, kehrte meine Trauer über seinen Tod mit voller Wucht zurück. Ich musste wegsehen. Wahid nahm das Foto entgegen und betrachtete es. »Diesen Jungen?«
Ich nickte.
»Diesen Hazara-Jungen?« »Ja.«
»Was bedeutet er Ihnen?«
»Sein Vater stand mir sehr nahe. Das ist der Mann auf dem Foto. Er ist inzwischen gestorben.«
Wahid blinzelte mit den Augen. »Er war ein Freund von Ihnen?«
Spontan wollte ich die Frage bejahen, als ginge es auch mir darum, Babas Geheimnis zu hüten. Doch es war in dieser Hinsicht genug gelogen worden. »Er war mein Halbbruder.« Ich schluckte. Fügte hinzu: »Mein unehelicher Halbbruder.« Ich drehte die Teetasse in den Händen, spielte mit dem Henkel.
»Ich wollte nicht indiskret sein.«
»Das sind Sie auch nicht«, erwiderte ich. »Was haben Sie mit dem Jungen vor?«
»Ihn mit nach Peshawar nehmen. Da wohnen Leute, die sich um ihn kümmern werden.« Wahid gab mir das Foto zurück und legte mir seine große Hand auf die Schulter. »Sie sind ein ehrenhafter Mann, Amir Aga. Ein wahrer Afghane.« Ich wand mich innerlich.
»Ich bin stolz darauf, Sie heute Nacht zu Gast in meinem Haus zu haben«, sagte Wahid. Ich bedankte mich und riskierte einen Blick auf Farid. Er blickte nach unten und zupfte an den losen Enden der Strohmatratze.
Wenig später brachten Maryam und ihre Mutter zwei Schalen mit Gemüse-shorwa und zwei Fladenbrote herein. »Tut mir Leid, dass wir Ihnen kein Fleisch anbieten können«, sagte Wahid. »Fleisch können sich in dieser Zeit nur die Taliban leisten.«
»Die Suppe sieht köstlich aus.« Und sie war auch köstlich. Ich wollte mit Wahid und den Jungen teilen, doch Wahid sagte, dass die Familie schon gegessen habe. Farid und ich krempelten die Ärmel hoch, tunkten unser Brot in die dampfende shorwa und langten zu.
Beim Essen fiel mir auf, dass Wahids Söhne immer wieder neugierige Blicke auf meine digitale Armbanduhr warfen. Alle drei hatten ungewaschene Gesichter und ganz kurz geschnittene braune Haare unter ihren Kappen. Der Jüngste flüsterte dem Bruder etwas ins Ohr, worauf dieser nickte, ohne meine Uhr aus den Augen zu lassen. Der Älteste - ich schätzte sein Alter auf zwölf - schaukelte vor und zurück; auch er konnte sich anscheinend nicht satt sehen und starrte auf mein Handgelenk. Als ich mir nach dem Essen mit dem Wasser, das Maryam aus einem Tonkrug schüttete, die Hände wusch, bat ich Wahid um die Erlaubnis, seinen Söhnen ein hadia, ein Geschenk, machen zu dürfen. Er sagte Nein, doch weil ich darauf bestand, willigte er zögernd ein. Ich löste die Uhr vom Handgelenk und reichte sie dem jüngsten der drei Jungen. »Tashakor«, murmelte der.
»Darauf kann man ablesen, wie spät es an verschiedenen Orten der Welt ist«, erklärte ich. Die Jungen nickten höflich und begutachteten abwechselnd die Uhr. Doch bald war das Interesse an ihr verloren. Sie lag achtlos auf der Strohmatte.
»Das hättest du auch schon eher erzählen können«, sagte Farid später. Wir lagen Seite an Seite auf dem Strohlager, das Wahids Frau für uns gerichtet hatte. »Was?«
»Den Grund für deine Reise nach Afghanistan.« Seine Stimme klang sehr viel weniger barsch, als ich es von ihr gewohnt war.
»Du hast mich nicht danach gefragt«, antwortete ich. »Du hättest es mir sagen sollen.« »Du hast nicht danach gefragt.«
Er wälzte sich auf die Seite, legte den Kopf auf seinen angewinkelten Arm und sah mich an. »Ich könnte
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