Drachenläufer
auffiel: Kaum eines von ihnen war in Begleitung eines erwachsenen Mannes. Väter gab es nach den Kriegen nur noch wenige in Afghanistan.
Wir fuhren auf der Jadeh Maywand, einer der ehemals verkehrsreichsten Straßen, in westlicher Richtung dem Stadtteil Karteh-Seh entgegen. Im Norden lag das knochentrockene Bett des Kabul-Flusses. Auf den Hügeln im Süden ragte die alte, verfallene Stadtmauer auf. Und gleich östlich davon thronte die Festung Bala Hissar - jene uralte Burg, die 1992 von Warlord Dostum okkupiert worden war - hoch oben auf einer Kuppe der Shirdarwaza-Kette, ebenjener Berge, von denen aus Gulbuddins Truppen zwischen 1992 und 1996 die Stadt mit Raketen beschossen und einen Großteil der Schäden angerichtet hatten, die ich nun vor mir sah. Die Shirdarwaza-Kette erstreckt sich bis weit nach Westen. Ich erinnerte mich an die Böller der Topeh chasht, der »Mittagskanone«, die von diesen Bergwänden widerhallten. Die Kanone donnerte jeden Tag Schlag zwölf und außerdem, um während des Ramadan bei Einbruch der Nacht das Ende der Fastenstunden anzuzeigen. Sie war damals überall in der Stadt zu hören.
»Auf der Jadeh Maywand war ich früher oft als Kind«, brummte ich vor mich hin. »Es gab jede Menge Geschäfte und Hotels. Neonreklame und Restaurants. In einem kleinen Laden neben dem alten Polizeipräsidium habe ich meine Drachen gekauft, bei einem alten Mann, der Saifo hieß.«
»Das Polizeipräsidium steht noch«, sagte Farid. »An Polizei fehlt es hier wahrhaftig nicht. Aber Drachen oder Läden, in denen man Drachen kaufen kann, wirst du hier und in ganz Kabul vergeblich suchen. Damit ist es vorbei.«
Die Jadeh Maywand hatte sich in eine breite Sandpiste verwandelt. Die Gebäude, die noch standen, drohten in sich zusammenzusacken. Dächer waren eingestürzt, und die Mauern steckten voller Granatsplitter. Ganze Häuserreihen lagen in Trümmern. Aus einem Schutthaufen sah ich ein von Kugeln durchsiebtes Reklameschild ragen: DRINK COCA
CO... konnte ich noch lesen. Ich sah Kinder in den Ruinen fensterloser Häuser zwischen Mauerresten spielen. Fahrradfahrer und Maultiergespanne kurvten im Zickzack um Trümmer, Kinder und streunende Hunde. Ein Schleier aus Staub hing über der Stadt; jenseits des Flusses stieg eine Rauchsäule in den Himmel. »Wo sind die Bäume?«, fragte ich.
»Die hat man im Winter verfeuert«, antwortete Farid. »Viele sind auch von den Shorawi gefällt worden.« »Warum?«
»Weil sich oft Scharfschützen dahinter versteckt haben.«
Ich wurde sehr traurig. Nach Kabul zurückzukehren war wie die Begegnung mit einem alten Freund, dem das Leben offenbar schwer zugesetzt hatte und der nun völlig verarmt und obdachlos war.
»Mein Vater hat in Shar-e-Kohna, der alten Stadt im Süden von hier, ein Waisenhaus gebaut«, sagte ich.
»Ich erinnere mich«, antwortete Farid. »Vor ein paar Jahren ist es zerstört worden.« »Halt doch bitte mal an«, sagte ich. »Ich möchte mir die Beine vertreten und mich ein bisschen umsehen.«
Farid parkte den Wagen in einer kleinen Seitenstraße gleich neben einem baufälligen, verlassenen Haus ohne Tür. »Das war einmal eine Apotheke«, murmelte Farid beim Aussteigen. Wir gingen zur Jadeh Maywand zurück und wandten uns nach rechts, Richtung Westen. »Was ist das für ein Gestank?«, fragte ich. Irgendetwas ließ meine Augen tränen.
»Diesel«, gab Farid zur Antwort. »Diesel?«
»Auf die Kraftwerke der Stadt ist kein Verlass. Es kommt immer wieder zu Stromausfällen. Darum behelfen sich die Leute mit eigenen Generatoren, die mit Diesel angetrieben werden.«
»Diesel. Weißt du noch, wonach es früher in dieser Gegend gerochen hat?«
Farid schmunzelte. »Nach Kebab.«
»Lamm-Kebab.«
»Lamm.« Farid ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »So was bekommen in Kabul heutzutage nur die Taliban zu essen.« Er zupfte an meinem Ärmel. »Wenn man vom Teufel spricht...«
Da rollte ein Fahrzeug auf uns zu. »Bart-Patrouille«, flüsterte Farid.
Es war das erste Mal, dass mir Taliban zu Gesicht kamen. Ich hatte sie bislang nur im Fernsehen, im Internet, auf den Titelseiten von Zeitschriften oder Tageszeitungen gesehen. Jetzt aber stand ich ihnen kaum zwanzig Schritte gegenüber. Und ich wollte nicht wahr haben, dass es nackte Angst war, die da plötzlich in mir aufstieg, mir durch Mark und Bein ging und das Herz schneller schlagen ließ. Da waren sie. In all ihrer Herrlichkeit.
Der rote Toyota-Pick-up fuhr langsam an uns vorbei. Im
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