Drachenläufer
Hände.
Nachdem Farid den Jungen abgeholt hatte, faltete ich Rahim Khans Brief auseinander. Ich hatte seine Lektüre so lange wie möglich hinausgezögert und las nun:
Amir jan,
Inshallah, dass dich der Brief erreicht und du in Sicherheit bist. Ich hoffe inständig, dich nicht in Gefahr gebracht zu haben und dass du Afghanistan nicht allzu ungastlich findest. Du bist seit dem Tag deines Aufbruchs in meinen Gebeten. Du hattest all die Jahre Recht mit der Vermutung, dass ich Bescheid weiß. Hassan hat mir von dem Vorfall berichtet. Du hast dich falsch verhalten, Amir jan, aber vergiss nicht, dass du damals noch ein Junge warst. Ein verstörter kleiner Junge. Du warst damals schon zu hart gegen dich selbst und bist es heute noch - das habe ich hier in Peshawar deinen Augen angesehen. Doch ich hoffe, du bedenkst Folgendes: Von Leid verschont bleibt nur, wer kein Gewissen hat und ohne Güte ist. Ich wünsche dir allerdings, dass dein Leiden mit dieser Reise nach Afghanistan ein Ende findet. Amir jan, es beschämt mich, dass wir dich über all die Jahre belogen haben. Dein Wutausbruch in Peshawar war nur allzu berechtigt. Du hattest einen Anspruch auf Aufklärung. So wie auch Hassan. Ich will nichts und niemanden entschuldigen, aber das Kabul jener Tage war eine seltsame Welt, in der manche Dinge wichtiger waren als die Wahrheit.
Amir jan, ich weiß, du hattest es als Junge oft schwer mit deinem Vater. Ich habe miterlebt und mitgefühlt, wie sehr du dich um seine Zuneigung bemüht hast. Dein Vater, Amir jan, war hin- und hergerissen zwischen dir und Hassan. Er hat euch beide geliebt, konnte aber Hassan nicht so lieben, wie er es gewünscht hätte, nämlich unverhohlen und wie ein Vater. Also hat er seine Verzweiflung an dir ausgelassen -an Amir, der gesellschaftlich akzeptierten Hälfte, jener Hälfte, die für die ererbten Reichtümer steht und für all die damit einhergehenden Privilegien. Wenn er dich sah, sah er sich selbst. Und seine Schuld. Du hegst immer noch Groll, und mir ist klar, dass es noch zu früh ist, Nachsicht von dir zu erwarten, aber vielleicht wirst du eines Tages einsehen, dass dein Vater, wenn er es dir schwer gemacht hat, im Grunde mit sich selbst hart ins Gericht gegangen ist. Dein Vater hat wie du unter Seelenqualen gelitten, Amir jan.
Ich kann dir kaum beschreiben, wie tief meine Trauer war, in die mich der Tod deines Vaters gestürzt hat. Ich habe ihn geliebt, nicht nur als Freund, sondern auch, weil er ein guter Mensch war, ja ein großer Mann. Und es liegt mir sehr daran, dir klar zu machen, dass Güte, wahre Güte, aus Reue erwächst, so wie bei deinem Vater. Ich glaube, dass alles, was er getan hat, sei es seine Mildtätigkeit gegenüber den Armen auf den Straßen, sei es der Bau des Waisenhauses oder seine Freigebigkeit, mit der er Freunden in Not geholfen hat - dass all das in der Absicht geschah, eine Schuld zu tilgen. Das ist, glaube ich, wahre Wiedergutmachung: Wenn Schuldgefühle Gutes hervorbringen.
Ich bin zuversichtlich, dass uns Allah Vergebung widerfahren lässt. Er wird deinem Vater vergeben, wie auch mir und dir. Nimm Dir ein Beispiel daran. Vergib deinem Vater, wenn es dir möglich ist. Vergib mir, wenn es dir beliebt. Und, was am wichtigsten ist: Vergib dir selbst.
Ich habe Geld für dich deponiert, es ist nicht viel, aber trotzdem ein Großteil dessen, was ich hinterlasse. Ich vermute, du wirst Auslagen haben, wenn du hierher zurückkehrst; dafür sollte das Geld immerhin reichen. Es liegt in einem Schließfach, dessen Schlüssel jetzt in deinem Besitz ist. Farid kennt die Adresse der Bank in Peshawar.
Ich muss jetzt gehen. Mir bleibt nicht mehr viel Zeit, und die möchte ich allein verbringen. Bitte, versuche nicht, mich ausfindig zu machen. Das ist meine letzte
Bitte an dich.
Allah sei mit dir.
Auf immer dein Freund,
Rahim
Ich fuhr mir mit dem Ärmel meines vom Krankenhaus gestellten Nachthemds über die Augen, faltete den Brief wieder zusammen und versteckte ihn unter der Matratze.
An Amir, der gesellschaftlich akzeptierten Hälfte, jener Hälfte, die für die ererbten Reichtümer steht und für all die damit einhergehenden Privilegien. Vielleicht lag darin der Grund, warum wir, Baba und ich, uns in den Vereinigten Staaten so viel besser verstanden haben, dachte ich. Dort, wo es uns so viel schlechter ging mit unseren armseligen Jobs und der schäbigen Wohnung, dort hat er in mir vielleicht einen Teil von Hassan gesehen.
Dein Vater hat wie du unter
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