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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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sich zu fragen, was mich denn als Nächstes aus der Fassung bringen mochte. Ich kritzelte die Namen auf ein Stück Papierhandtuch. »John und Betty Caldwell.«
    Farid faltete den Zettel und steckte ihn ein. »Sobald ich Zeit habe, werde ich sie suchen«, versprach er. Und an Suhrab gewandt: »Dich hole ich dann am Abend ab. Und denk daran, Amir Aga muss noch geschont werden.«
    Suhrab ging ans Fenster, vor dem ein halbes Dutzend Tauben die auf dem Sims ausgestreuten Brotkrumen aufpickten.
    In der mittleren Schublade der Konsole neben meinem Bett hatte ich eine alte Ausgabe von National Geographie gefunden, einen angekauten Bleistift, einen lückenhaften Kamm und das, wonach ich mich nun unter Aufbietung all meiner geschwundenen Kräfte reckte: einen Satz Spielkarten. Ich hatte sie schon durchgezählt und zu meinem Erstaunen festgestellt, dass keine Karte fehlte. Ohne eine Antwort zu erwarten, geschweige denn eine positive, fragte ich Suhrab, ob er nicht mit mir spielen wolle. In meiner Gegenwart hatte er seit unserer Flucht aus Kabul kaum ein Wort gesagt. Jetzt wandte er sich allerdings vom Fenster ab und sagte: »Ich kann aber nur panjpar.«
    »Dann tust du mir jetzt schon Leid, denn ich bin ein Großmeister des panjpar. Und als solcher auf der ganzen Welt bekannt.«
    Er nahm Platz auf dem Hocker neben dem Bett. Ich gab ihm seine fünf Karten. »Als dein Vater und ich in deinem Alter waren, haben wir dieses Spiel auch immer gespielt. Vor allem im Winter, wenn es schneite und wir nicht nach draußen konnten. Wir spielten, bis es dunkel wurde.«
    Er spielte eine Karte aus und hob eine von dem Stoß ab. Während er über sein Blatt grübelte, musterte ich ihn mit verstohlenen Blicken. Wie sehr und in wie vielerlei Hinsicht war er doch seinem Vater ähnlich: Genau wie dieser fächerte er die Karten mit beiden Händen auf, studierte sie mit halb zugekniffenen Augen und scheute den direkten Blickkontakt mit seinem Gegenüber.
    Wir spielten schweigend. Ich gewann das erste Spiel, ließ ihn das nächste gewinnen und verlor die weiteren fünf glatt. »Du bist so gut wie dein Vater, vielleicht sogar besser«, sagte ich nach dem letzten verlorenen Spiel. »Ich habe ihn zwar manchmal geschlagen, glaube aber, dass er mich hat gewinnen lassen.« Und nach einer kurzen Pause: »Dein Vater und ich sind von derselben Amme gestillt worden.«
    »Ich weiß.«
    »Was ... was hat er dir sonst noch alles über uns erzählt?« »Dass Sie der beste Freund waren, den er je hatte«, antwortete er.
    Ich zupfte und nestelte am Karobuben in meiner Hand. »Ich fürchte, ich war ihm kein besonders guter Freund«, entgegnete ich. »Ich würde aber gern dein Freund sein, und ich glaube, dass ich dir ein guter Freund wäre. Einverstanden? Würde dir das gefallen?« Ich legte vorsichtig meine Hand auf seinen Arm, doch er zuckte zurück. Er ließ die Karten fallen, stand auf und wich zum Fenster aus. Über Peshawar ging die Sonne unter und malte rote und violette Streifen an den Himmel. Von der Straße tönten Autohupen, Eselsschreie und die Trillerpfeife eines Polizisten. Suhrab stand im roten Abendsonnenschein, die Stirn ans Glas gepresst und die Fäuste unter die Arme gesteckt.
    Aisha hatte einen Assistenten, der mir noch an diesem Abend dabei half, die ersten Schritte zu gehen. Ich schleppte mich ein einziges Mal durchs Zimmer und zurück, wobei ich mit der einen Hand den rollenden Infusionsständer gepackt hielt und mit der anderen den Unterarm des Assistenten. Für diesen kurzen Ausflug brauchte ich zehn Minuten; danach tat mir wieder alles weh, und mein Körper war schweißgebadet. Keuchend ließ ich mich aufs Bett fallen und spürte das Herz in den Ohren pochen. Ich dachte an meine Frau und daran, wie sehr sie mir fehlte.
    Am nächsten Tag spielten Suhrab und ich fast ununterbrochen panjpar, wiederum schweigend. So auch am übernächsten Tag. Wir wechselten kaum ein Wort, spielten einfach nur panjpar, ich aufgerichtet im Bett, er auf dem dreibeinigen Hocker sitzend. Aus der Hand legten wir die Karten nur, wenn ich meine mühsamen Gehversuche im Zimmer fortsetzen oder die Toilette am Ende des Ganges aufsuchen musste. In der folgenden Nacht hatte ich einen Traum. Ich träumte, dass Assef in der Tür zu meinem Krankenzimmer stand, immer noch mit der Messingkugel in der Augenhöhle. »Wir sind uns gleich, du und ich«, sagte er. »Du hast zwar mit ihm an einer Brust gelegen, bist aber in Wirklichkeit mein Zwilling.«
    Am Morgen verlangte ich von

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