Drachenläufer
sagte er, löste sich aber bereits vom Schalter. »Ich zahle für die Fahrt«, sagte ich
Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Warten Sie einen Augenblick.« Er verschwand in einem angrenzenden Zimmer, kehrte mit einer anderen Brille und einem Schlüsselbund in der Hand zurück, gefolgt von einer kleinen, rundlichen Frau in orangefarbenem Sari. Sie nahm seinen Platz hinterm Schalter ein. »Ich will kein Geld«, sagte er prustend. »Ich helfe Ihnen, weil ich selbst Vater bin.«
Ich war darauf gefasst, den ganzen Tag kreuz und quer durch die Stadt zu fahren, und sah mich schon bei der Polizei unter Mr. Fayyaz' tadelnden Blicken eine Beschreibung von Suhrab abgeben, meinte bereits die müde, gelangweilte Stimme des Beamten zu hören, der die obligatorischen Fragen stellte. Und in Zwischentönen würde wahrscheinlich eine andere Frage anklingen: Wen zum Teufel interessiert ein weiteres totes afghanisches Kind?
Doch wir fanden ihn; rund hundert Schritt von der Moschee entfernt, hockte er auf einer Raseninsel inmitten eines Parkplatzes, der zur Hälfte mit Autos gefüllt war. Mr. Fayyaz hielt neben der Insel an und ließ mich aussteigen. »Ich muss wieder zum Hotel«, sagte er.
»In Ordnung. Wir gehen zu Fuß zurück«, sagte ich. »Ich bin Ihnen sehr dankbar, Mr. Fayyaz. Wirklich.«
Er beugte sich über den Vordersitz, als ich ausstieg. »Darf ich Ihnen etwas sagen?« »Sicher.«
Im Halbdunkel leuchteten mir die Brillengläser entgegen, in denen sich das abnehmende Licht spiegelte. »Also wirklich, ihr Afghanen ... ihr seid allesamt ziemlich leichtsinnig.«
Ich war müde und hatte Schmerzen, ganz besonders am Kiefer. Und diese verdammten Wunden in der Brust und am Bauch fühlten sich an wie Stacheldraht unter der Haut. Trotzdem fing ich unwillkürlich zu lachen an.
»Was ... was habe ich ...«, sagte Mr. Fayyaz, doch ich konnte nicht mehr an mich halten und stieß prustende Lachsalven durch meine verdrahteten Zähne.
»Verrücktes Volk«, brummelte er und fuhr davon.
»Du hast mir einen gehörigen Schrecken eingejagt«, sagte ich. Ich setzte mich neben Suhrab, stöhnend vor Schmerzen, als ich den Rumpf beugte. Suhrab war ganz in die Betrachtung der Moschee versunken. Sie sah aus wie ein riesiges Zelt. Auf dem Parkplatz herrschte reger Verkehr; in Weiß gekleidete Gläubige kamen und gingen. Wir saßen schweigend beieinander. Ich lehnte an einem Baumstamm, Suhrab hielt die angezogenen Knie mit den Armen umschlungen. Wir lauschten der Aufforderung zum Gebet, sahen die vielen hundert Lichter des Gotteshauses aufleuchten, als die Dunkelheit anbrach. Die
Moschee glitzerte wie ein Diamant. Sie brachte den Himmel und Suhrabs Gesicht zum Leuchten.
»Sind Sie jemals in Mazar-e-Sharif gewesen?«, fragte Suhrab, das Kinn auf eines der Knie gestützt.
»Vor langer Zeit. Viel ist mir davon nicht in Erinnerung geblieben.«
»Vater hat mich einmal dahin mitgenommen. Mutter und Sasa waren auch dabei. Auf dem Basar hat mir Vater einen Affen gekauft. Keinen lebendigen, sondern einen, den man aufblasen konnte. Er war braun und trug einen Schlips.«
»So einen hatte ich früher auch einmal.«
»Wir haben die Blaue Moschee besucht, das Grab von Hazrat Ali«, fuhr Suhrab fort. »Draußen vor der masjid gab es viele, viele Tauben. Die hatten kaum Angst. Sie wagten sich ganz dicht an uns heran. Sasa gab mir kleine Stückchen naan, und ich habe die Tauben gefüttert. Das war lustig, all die gurrenden Tauben um mich herum.«
»Du vermisst deine Eltern sehr, nicht wahr?«, sagte ich. Ich fragte mich, ob er mit angesehen hatte, wie sie von den Taliban hinaus auf die Straße gezerrt worden waren, hoffte, dass ihm das erspart geblieben war.
»Vermissen Sie Ihre Eltern?«, fragte er.
»Ob ich meine Eltern vermisse? Meine Mutter habe ich nicht gekannt. Mein Vater ist vor einigen Jahren gestorben. Ja, ich vermisse ihn. Manchmal sehr.« »Wissen Sie noch, wie er ausgesehen hat?«
Ich dachte an Babas kräftigen Nacken, die schwarzen Augen, das krause braune Haar. Auf seinem Schoß zu sitzen war, als ritte ich auf zwei Baumstämmen.
»Ja, ich weiß noch, wie er aussah«, antwortete ich. »Ich weiß sogar noch, wie er gerochen hat.«
»Bei mir ist es so, dass ich mehr und mehr vergesse«, sagte Suhrab. »Ist das schlimm?«
»Nein«, erwiderte ich. »Das bringt die Zeit so mit sich.« Mir fiel etwas ein. Ich griff in meine Manteltasche und holte die Polaroidaufnahme von Hassan und Suhrab hervor. »Hier«, sagte ich.
Er nahm das Foto,
Weitere Kostenlose Bücher