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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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drehte es ins Licht, das von der Moschee herüberleuchtete, und führte es ganz dicht vor seine Augen. Lange betrachtete er die Aufnahme. Ich dachte, dass er womöglich zu weinen begänne, doch ich täuschte mich. Er hielt das Bild in den Händen und fuhr mit dem Daumen über die Oberfläche. Mir fiel eine Zeile ein, die ich irgendwo einmal gelesen oder aufgeschnappt hatte: Es gibt viele Kinder in Afghanistan, aber wenig Kindheit. Nach einer Weile reichte er mir das Foto zurück.
    »Behalt es«, sagte ich. »Es gehört dir.«
    »Danke.« Er warf noch einen Blick auf das Foto und steckte es dann in seine Westentasche. Ein Pferdekarren rollte klappernd über den Parkplatz. Die Schellen am Halsband des Pferdes läuteten bei jedem Schritt. »Ich habe in letzter Zeit viel über Moscheen nachgedacht«, sagte Suhrab.
    »Ach ja? Inwiefern?«
    Er zuckte mit den Achseln. »Einfach nur so.« Er hob das Gesicht und sah mich an. Jetzt hatte er tatsächlich zu weinen angefangen. »Darf ich Sie etwas fragen, Amir Aga?« »Nur zu.«
    »Wird Allah mich ...« Er stockte schluchzend. »Wird Allah mich in die Hölle stecken für das, was ich diesem Mann angetan habe?«
    Ich streckte die Hand nach ihm aus. Er zuckte zurück, und ich ließ von ihm ab. »Nay. Gewiss nicht«, antwortete ich. Gern hätte ich ihn an mich gezogen, in meinen Armen gehalten und ihm gesagt, dass nicht er Böses getan habe, dass vielmehr ihm Böses widerfahren sei.
    Er verzog das Gesicht, hatte sichtlich Mühe, Fassung zu bewahren. »Vater hat immer gesagt, dass es auch falsch wäre, bösen Menschen zu schaden. Weil sie es nicht besser wissen und weil sie manchmal auch gut werden.«
    »Nicht immer, Suhrab.«
    Er sah mich fragend an.
    »Ich kenne den Mann, der dir wehgetan hat, schon seit vielen Jahren«, erklärte ich. »Vermutlich hast du das aus unserer Unterhaltung herausgehört. Er ... er hat mich einmal so bedroht, dass ich große Angst bekam und mir nicht zu helfen wusste, aber dein Vater hat mich gerettet. Wir waren damals so alt wie du jetzt. Dein Vater war sehr tapfer. Sooft ich in Not war, ist er für mich eingestanden. Eines Tages hat dieser schlechte Mann, der es eigentlich auf mich abgesehen hatte, deinen Vater geschlagen und ihm sehr, sehr Schlimmes zugefügt. Und ich ... ich konnte ihm nicht helfen, so wie er mir geholfen hätte.«
    »Warum wollten andere meinem Vater wehtun?«, fragte Suhrab mit dünner Stimme. »Er war doch nie zu irgendjemandem gemein.«
    »Du hast Recht. Dein Vater war ein guter Mann. Aber das ist es ja gerade, das versuche ich dir zu erklären, Suhrab jan. Dass es in dieser Welt Menschen gibt, die schlecht sind und schlecht bleiben. Manchmal muss man solchen Menschen die Stirn bieten. Was du diesem Mann getan hast, hätte ich schon damals vor vielen Jahren tun müssen. Er hat es nicht anders verdient. Oder doch, im Grunde hätte er noch Schlimmeres verdient.«
    »Glauben Sie, Vater wäre von mir enttäuscht?«
    »Im Gegenteil, er wäre stolz. Davon bin ich überzeugt«, antwortete ich. »Du hast mir das Leben gerettet.«
    Er wischte sich mit dem Hemdsärmel über das Gesicht, was die Speichelblase, die sich in seinem Mundwinkel gebildet hatte, zum Platzen brachte. »Ich vermisse Vater, und auch meine Mutter«, krächzte er. »Und ich vermisse Sasa und Rahim Khan Sahib. Manchmal bin ich aber froh, dass sie nicht... sie nicht mehr hier sind.«
    »Warum?« Ich berührte seinen Arm. Er wich mir aus.
    »Weil...«, er schluchzte, keuchte, »ich will nicht, dass sie mich sehen ... dreckig, wie ich bin.« Er holte tief Luft, stieß sie winselnd wieder aus. »Ich bin so dreckig und voller Sünde.« »Das bist du nicht, Suhrab«, sagte ich.
    »Diese Männer ...« »Du bist nicht dreckig.«
    »... was die gemacht haben! Der schlechte Mann und die beiden anderen ... was die mit mir gemacht haben!«
    »Du hast dir nichts zu Schulden kommen lassen.« Wieder berührte ich seinen Arm, und wieder wich er mir aus. Behutsam legte ich meinen Arm um ihn und zog ihn an mich. »Ich werde dir nicht wehtun«, flüsterte ich. »Versprochen.«
    Er sträubte sich noch ein wenig, gab dann aber nach. Er ließ es zu, dass ich ihn an mich zog, und lehnte seinen Kopf an meine Brust. Mit jedem Schluchzer zuckte sein kleiner Körper in meinen Armen.
    Zwischen denen, die von derselben Brust genährt wurden, existieren verwandtschaftliche Bande. Jetzt, da mir der Schmerz des Jungen buchstäblich nahe ging, spürte ich, dass auch wir aufs Engste miteinander

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