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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Sie und meinen Vater gleich gern gehabt?«
    Ich erinnerte mich an einen lange zurückliegenden Tag am Ghargha-See, als Baba Hassan anerkennend auf die Schulter geklopft hatte, weil der von ihm geworfene Stein häufiger übers Wasser gehüpft war als meiner. Ich sah Baba vor mir, wie er strahlte, als Hassan im Krankenhaus der Verband von den Lippen entfernt worden war. »Ich glaube, er hat uns gleich gern gehabt, aber auf unterschiedliche Weise.« »Hat er sich für meinen Vater geschämt?«
    »Nein«, antwortete ich. »Ich glaube, er hat sich für sich selbst geschämt.«
    Schweigend nahm Suhrab wieder sein Sandwich in die Hand und nagte daran herum.
    Erst am späten Nachmittag, müde von der Hitze, aber auf angenehme Art müde, machten wir uns auf den Rückweg. Im Taxi fühlte ich mich die ganze Zeit über von Suhrab beobachtet. Ich bat den Chauffeur vor einem Laden anzuhalten, der Telefonkarten verkaufte. Er tat mir den Gefallen und besorgte mir eine.
    Am Abend sahen wir uns, auf den Betten liegend, eine Talkshow im Fernsehen an. Zwei Geistliche mit grau melierten langen Barten und weißen Turbanen antworteten auf Anrufe aus aller Welt. Jemand aus Finnland, ein Mann namens Ayub, war um das Seelenheil seines zehnjährigen Sohnes besorgt und fragte allen Ernstes, ob es ihm schaden würde, wenn er den Bund seiner weiten Hose so weit herunterhängen ließe, dass die Unterwäsche darunter zum Vorschein kam.
    »Ich habe einmal ein Foto von San Francisco gesehen«, sagte Suhrab.
    »Tatsächlich?«
    »Darauf war eine rote Brücke und ein ganz hohes, spitz zulaufendes Gebäude zu sehen.« »Du solltest erst einmal die Straßen sehen«, sagte ich.
    »Was ist mit denen?« Er hatte jetzt den Blick auf mich gerichtet. Die beiden Mullahs auf dem Bildschirm beratschlagten sich.
    »Die sind so steil, dass man, wenn man bergauf fährt, nur Himmel und den Kühler des eigenen Autos sieht«, antwortete ich.
    »Das hört sich ja schlimm an«, sagte er. Er drehte sich zu mir, kehrte dem Fernseher den Rücken zu und sah mich an.
    »Man hat sich schnell daran gewöhnt.«
    »Gibt es dort Schnee?«
    »Nein, aber umso mehr Nebel. Hast du das Bild der roten Brücke noch vor Augen?« »Ja.«
    »Morgens hängt der Nebel manchmal so tief, dass nur noch die Spitzen der beiden Türme zu sehen sind.«
    Der Junge war sichtlich beeindruckt. »Oh.«
    »Suhrab?«
    »Ja.«
    »Hast du dir meine Frage noch einmal durch den Kopf gehen lassen?«
    Das Lächeln verschwand. Er wälzte sich auf den Rücken, verschränkte die Hände hinterm Kopf. Die Mullahs kamen zu der Ansicht, dass Ayubs Sohn zur Hölle verdammt sei, wenn er seine Hosen so weit unten trüge. Das stünde so in der Hadith, behaupteten sie. »Ich habe darüber nachgedacht«, antwortete Suhrab.
    »Und?«
    »Es macht mir Angst.«
    »Das ist nur verständlich«, sagte ich und schöpfte Hoffnung. »Ich bin sicher, dass du ganz schnell Englisch lernen, Freunde finden und dich eingewöhnen würdest...« »Ich meine etwas anderes. Davor hätte ich auch Angst, aber ...« »Was meinst du denn?«
    Er wandte sich mir wieder zu. Zog die Knie an. »Was, wenn Sie mich nicht mehr bei sich haben wollen? Wenn Ihre Frau mich nicht leiden kann?«
    Ich mühte mich von meinem Bett und setzte mich zu ihm. »Dazu würde es nie kommen, Suhrab«, antwortete ich. »Niemals. Das verspreche ich. Vergiss nicht, du bist mein Neffe. Und Soraya jan ist eine gute Frau. Glaub mir, sie wird dich lieben. Auch das kann ich dir versprechen.« Ich wagte es, seine Hand zu ergreifen. Er verkrampfte sich ein wenig, ließ es aber zu, dass ich sie hielt.
    »Ich will nicht noch einmal in ein Waisenhaus«, sagte er.
    »Dazu wird es auch nie kommen. Du hast mein Wort darauf.« Ich nahm seine Hand in beide Hände. »Komm mit mir nach Hause.«
    Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er sagte lange nichts. Dann drückte er meine Hand. Und er nickte. Er nickte.
    Beim vierten Versuch kam die Verbindung zustande. Nach dem dritten Rufzeichen hob sie ab. »Hallo?« In Islamabad war es halb acht Uhr abends, zwölf Stunden später als in Kalifornien. Soraya müsste seit etwa einer Stunde auf sein und sich fertig machen für die Schule.
    »Ich bin's.« Ich saß aufrecht auf dem Bett und beobachtete Suhrab, der eingeschlafen war.
    »Amir!« Es war fast ein Schrei. »Ist alles in Ordnung mit dir? Wo bist du?« »In Pakistan.«
    »Warum hast du nicht schon früher angerufen? Ich bin krank vor tashweesh! Meine Mutter betet jeden Tag und legt ein nazr

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