Drachenläufer
die Sorayas Knie tätschelte und sagte: Weiß Gott, vielleicht sollte es einfach nicht sein. Die Nacht auf dem Dach unseres Hauses, als Baba davon sprach, dass es nur eine einzige Sünde gebe, nämlich die des Diebstahls. Wenn du eine Lüge erzählst, stiehlst du einem anderen das Recht auf Wahrheit. Rahim Khan am Telefon mit dem Trost, dass Wiedergutmachung möglich sei.
24
Hatte mich Peshawar an die Stadt erinnert, die Kabul einmal gewesen war, so sah ich in Islamabad die Stadt, die Kabul vielleicht einmal würde sein können. Die Straßen waren breiter als in Peshawar, sauberer, von Hibiskussträuchern und Flammenbäumen gesäumt. Die Basare machten einen sehr viel besser organisierten Eindruck; das Gedränge von Rikschas und Fußgängern war hier längst nicht so groß. Eleganter, moderner war auch die Architektur, und ich sah Parkanlagen, wo im Schatten dichter Bäume Rosen und Jasmin blühten.
Farid fand ein kleines Hotel in einer Seitenstraße am Fuß der Margalla-Hügel. Wir kamen an der berühmten Faisal-Moschee vorbei, der angeblich größten Moschee der Welt mit ihren kolossalen Betontragwerken und den schwindelnd hohen Minaretten. Suhrab merkte auf beim Anblick dieser Moschee, lehnte sich aus dem Fenster und bestaunte sie, bis wir um eine Ecke gebogen waren.
Das Hotelzimmer war unvergleichlich komfortabler als das, wo wir, Farid und ich, in Kabul Quartier bezogen hatten. Die Bettwäsche war frisch gewaschen, der Teppich gesaugt und das Badezimmer blitzblank. Es gab Shampoo, Seife, Rasierklingen, eine Badewanne und
Handtücher mit Zitronenduft. Und keine Blutspuren an den Wänden. Auf einer Kommode gegenüber den beiden Einzelbetten stand außerdem ein Fernsehapparat.
»Sieh mal!«, sagte ich an Suhrab gerichtet. Ich schaltete den Apparat ein - eine Fernbedienung fehlte -, suchte ein Programm und fand eine Show für Kinder, in der zwei flauschige Puppenschafe Lieder auf Urdu sangen. Suhrab setzte sich auf eines der Betten und zog die Knie an die Brust. Das flackernde Licht des Fernsehers spiegelte sich in seinen grünen Augen, als er mit regloser Miene zuschaute und dabei mit dem Oberkörper vor und zurück schaukelte. Ich erinnerte mich, Hassan versprochen zu haben, ihm und seiner Familie später einmal, wenn wir erwachsen sein würden, einen Fernseher zu schenken.
»Ich werde mich dann jetzt wieder auf den Weg machen, Amir«, sagte Farid.
»Bleib doch noch über Nacht«, entgegnete ich. »Du wärst dann ausgeruht für die lange Fahrt zurück.«
»Tashakkor«, sagte er. »Aber ich möchte noch heute Nacht wieder zu Hause sein. Ich vermisse meine Kinder.« Auf dem Weg hinaus blieb er in der Tür stehen. »Auf Wiedersehen, Suhrab ja««, sagte er. Auf eine Antwort wartete er vergebens. Suhrab nahm keine Notiz von ihm. Vom Licht des Fernsehers beschienen, schaukelte er vor und zurück. Draußen steckte ich Farid einen Briefumschlag zu. Als er ihn geöffnet hatte, fiel ihm die Kinnlade herunter.
»Ich weiß nicht, wie ich dir danken soll«, sagte ich. »Du hast so viel für mich getan.« »Wie viel ist das?«, fragte Farid, sichtlich irritiert.
»Ein bisschen über dreitausend Dollars.«
»Dreitau...« Er stockte. Die Unterlippe zitterte ein wenig. Später, als sein Wagen anfuhr, drückte er zweimal auf die Hupe und winkte. Ich winkte zurück. Wir haben uns nie wieder gesehen.
Ich kehrte ins Hotelzimmer zurück und sah Suhrab zusammengerollt auf dem Bett liegen. Er hatte die Augen geschlossen, aber mir schien es, als weinte er. Der Fernseher war ausgeschaltet. Ich setzte mich aufs Bett, biss vor Schmerzen die Zähne aufeinander und wischte mir den kalten Schweiß von der Stirn. Ob ich aufstand, mich setzte oder im Bett zur Seite drehte - jede Bewegung tat höllisch weh, und ich fragte mich, wie lange noch. Ich fragte mich, wie lange ich noch auf feste Nahrung würde verzichten müssen. Ich fragte mich, was ich mit dem kleinen Jungen, dieser verletzten Seele, anstellen sollte, obwohl ein Teil von mir die Antwort längst kannte.
Auf dem Frisiertisch stand eine Karaffe Wasser. Ich schenkte mir ein Glas ein und nahm zwei von Armands Schmerztabletten. Das Wasser war warm und bitter. Ich zog die Vorhänge zu, nahm vorsichtig auf dem Bett Platz und streckte mich aus. Ich glaubte, mir würde die Brust zerspringen. Als der Schmerz ein wenig nachließ und ich wieder Luft schöpfen konnte, zog ich die Decke über die Brust und wartete darauf, dass die Wirkung der Pillen einsetzte.
Es war dunkler geworden,
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