Drachenläufer
Ich rutschte auf meinem Platz hin und her, löste die Schnürsenkel meiner Schuhe und schnürte sie wieder zu. Die Empfangsdame stellte ein großes eisgekühltes Glas Limonade auf dem Tischchen ab. »Zum Wohl.«
Suhrab lächelte schüchtern. »Tank you wery match«, bedankte er sich artig. Viel mehr wusste er auf Englisch nicht zu sagen, eigentlich bloß noch: Have a nice day.
Sie lachte. »Gern geschehen.« Auf ihren hohen Absätzen ging sie klackernd zurück hinter den Rezeptionsschalter.
»Have a nice day«, sagte Suhrab.
Raymond Andrews war ein kleiner Mann mit zierlichen Händen und perfekt manikürten Fingernägeln. Er trug einen Ehering am Ringfinger. Mir war, als zerquetschte ich einen Spatz, als ich seine Hand schüttelte. In diesen Händen liegt unser Schicksal, dachte ich, als wir, Suhrab und ich, vor seinem Schreibtisch Platz nahmen. Hinter ihm an der Wand, gleich neben einer Landkarte der Vereinigten Staaten, hing ein Poster der Verfilmung von Les Miserables. Auf dem Fensterbrett stand, von der Sonne beschienen, ein Topf mit Tomatenpflanzen.
»Zigarette gefällig?«, fragte Andrews mit volltönender, tiefer Stimme, die so gar nicht zu seiner schmächtigen Gestalt passte.
»Nein, danke«, antwortete ich. Dass er Suhrab keines Blickes würdigte und auch mich, wenn er sprach, nur flüchtig ansah, störte mich nicht im Geringsten. Er öffnete eine Schreibtischschublade und brachte eine halb leere Packung zum Vorschein, aus der er eine Zigarette zog und anzündete. Derselben Schublade entnahm er daraufhin eine Flasche Ol. Die Zigarette im Mundwinkel, rieb er sich mit diesem Öl die kleinen Hände ein und betrachtete derweil seine Tomatenpflanzen. Schließlich schloss er die Schublade wieder, stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und stieß aus vollen Backen Rauch aus. »So«, sagte er und zwinkerte mit den grauen vom Zigarettenrauch irritierten Augen. »Erzählen Sie mir Ihre Geschichte.«
Ich kam mir vor wie Jean Valjean, verhört von Inspektor Javert, und musste mir noch einmal klar machen, dass ich mich hier auf amerikanischem Territorium befand, dass Andrews auf meiner Seite stand und gut dafür bezahlt wurde, Menschen wie mir zu helfen.
»Ich möchte diesen Jungen adoptieren und ihn in die Staaten mitnehmen«, sagte ich.
»Erzählen Sie mir Ihre Geschichte«, wiederholte er und zerdrückte mit dem Zeigefinger ein Bröckchen Asche, das auf die penibel aufgeräumte Schreibtischplatte gefallen war.
Ich trug ihm vor, was ich mir gleich nach meinem Telefonat mit Soraya im Kopf zurechtgelegt hatte, nämlich dass ich nach Afghanistan gekommen sei, um mich um den verwaisten und verwahrlosten Sohn meines Halbbruders zu kümmern, dass ich diesen
Jungen aus dem Heim geholt, diesem Heim etwas Geld gespendet hatte und dann mit ihm nach Pakistan gefahren sei.
»Sie sind der Halbonkel des Jungen?«
»Ja.«
Er warf einen Blick auf die Uhr. Lehnte sich zurück und richtete den Blick auf die Tomatenpflanzen im Fenster. »Kann das irgendjemand bezeugen?« »Ja, aber ich weiß nicht, wo er sich zurzeit aufhält.«
Andrews wandte sich mir zu und nickte. Vergeblich versuchte ich, seine Miene zu deuten, und fragte mich, ob er mit diesen kleinen Händen wohl jemals Poker gespielt hatte.
»Ich vermute doch richtig, dass Sie Ihre Zähne nicht aus modischen Gründen haben verdrahten lassen, oder?«, fragte er, und mir war spätestens jetzt klar, dass er uns, Suhrab und mir, Ärger machen würde. Ich sagte, dass ich in Peshawar überfallen und zusammengeschlagen worden sei.
»Natürlich«, antwortete er. Er räusperte sich. »Sind Sie Moslem?«
»Ja.«
»Praktizierender?«
»Ja.« In Wahrheit konnte ich mich nicht daran erinnern, wann ich das letzte Mal betend mit der Stirn den Boden berührt hatte. Doch plötzlich fiel mir ein: Es war der Tag, an dem Baba von Dr. Amani erfahren hatte, dass er bald würde sterben müssen. Ich hatte mich auf den Gebetsteppich niedergekniet und von der ersten Sure aufgesagt, was mir noch aus dem Schulunterricht in Erinnerung geblieben war.
»Das hilft in Ihrem Fall, aber nicht viel«, sagte Andrews und kratzte sich eine Stelle im Kranz seiner sandfarbenen Haare.
»Was soll das heißen?«, fragte ich und nahm Suhrab bei der Hand. Der Junge blickte verunsichert mal auf Andrews, mal auf mich.
»Darauf gibt es eine ausführliche Antwort, und die werde ich Ihnen auch nicht schuldig bleiben. Aber vielleicht wollen Sie eine kurze Antwort vorweg hören?«
»Ich bitte
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