Drachenläufer
liebsten um mich geschlagen. »Ich meine, ich begreife zwar, kann es aber nicht verstehen.«
Omar nickte und runzelte die Stirn. »So ist es. Nach einer Katastrophe, ob natürlichen Ursprungs oder von Menschen verursacht - und die Taliban sind eine Katastrophe, Amir, glauben Sie mir -, nach einer Katastrophe ist es immer schwer, zweifelsfrei festzustellen, ob ein Kind Waise ist oder nicht. Kinder gehen in Flüchtlingslagern verloren, oder sie werden von ihren Eltern ausgesetzt, weil die nicht mehr für sie sorgen können. So etwas kommt ständig vor. Darum wird Ihrem Neffen erst dann ein Visum ausgestellt, wenn belegt ist, dass er der Definition eines Waisenkindes entspricht. Bedaure, ich weiß, es klingt lächerlich, aber Sie brauchen Sterbeurkunden.«
»Sie kennen doch die Verhältnisse in Afghanistan«, sagte ich, »und werden wissen, dass es schlicht unmöglich ist, dort solche Dokumente zu bekommen.«
»Ganz recht«, antwortete er. »Jetzt nehmen wir einmal an, es gäbe keinen Zweifel daran, dass das Kind verwaist ist. In dem Fall wird die Einwanderungsbehörde argumentieren, dass es gute Adoptionspraxis sei, das Kind an Eltern im eigenen Land zu geben, damit es sein Kulturerbe nicht aufzugeben braucht.«
»Was für ein Erbe?«, entgegnete ich. »Die Taliban haben alles, was die Afghanen an kulturellem Erbe hatten, vernichtet. Sie erinnern sich doch noch, was die mit den großen Buddha-Statuen in Bamiyan angerichtet haben.«
»Tut mir Leid, ich sage Ihnen ja nur, wie der INS verfährt, Amir«, erwiderte Omar und legte mir die Hand auf den Arm. Er warf einen kurzen Blick auf Suhrab und lächelte. Wieder an mich gewandt, sagte er: »Nun, ein Adoptionsverfahren richtet sich nach den Gesetzen und Regularien des jeweiligen Landes, aus dem das zu adoptierende Kind stammt. Wenn aber in einem solchen Land Chaos herrscht, wie etwa in Afghanistan, haben die überlasteten staatlichen Behörden Wichtigeres zu tun, als Adoptionsverfahren abzuwickeln.«
Ich seufzte und rieb mir die Augen, hinter denen sich ein pochender Schmerz bemerkbar machte.
»Aber nehmen wir einmal an, dass Afghanistan seine Angelegenheiten irgendwie in den Griff bekommt«, fuhr Omar fort und verschränkte die Hände auf seinem Bäuchlein. »Ich fürchte, auch dann werden Sie Ihren Antrag nicht durchbringen. Selbst moderatere muslimische Länder sind in dieser Hinsicht sehr zögerlich, da das islamische Recht, die Scharia, so etwas wie Adoption nicht vorsieht. Und die Taliban kann man nicht als moderat bezeichnen, sie sind Fundamentalisten.«
»Sie raten mir also, es gar nicht erst zu versuchen?«, fragte ich und presste die Hand an die Stirn.
»Ich bin in den Vereinigten Staaten aufgewachsen, Amir. Wenn ich dort eins gelernt habe, dann die Maxime, dass aufzugeben das Allerletzte ist. Aber als Ihr Anwalt muss ich Ihnen reinen Wein einschenken«, sagte er. »Und da wäre noch etwas: Adoptionsvermittlungsstellen recherchieren für gewöhnlich im Umfeld des Kindes. Aber welche Agentur in Amerika würde einen Angestellten nach Afghanistan schicken?«
Ich bemerkte, dass Suhrab uns beobachtete. So wie er hatte auch sein Vater immer dagesessen: das Kinn auf die Knie gestützt.
»Ich bin sein Halbonkel. Zählt das nicht?«
»Doch, wenn Sie es beweisen können. Gibt es irgendwelche Papiere, aus denen hervorgeht, dass Sie sein Halbonkel sind?«
»Nein«, antwortete ich müde. »Ich wusste es ja bis vor kurzem selber nicht. Die einzige Person, die Zeugnis ablegen könnte, ist verschwunden, womöglich inzwischen gestorben.«
»Hmm.«
»Welche Optionen bleiben mir noch, Omar?« »Sehr wenige. Verzeihen Sie meine Offenheit.« »Himmel, was kann ich tun?«
Omar holte Luft, tippte mit dem Füller an sein Kinn und atmete geräuschvoll aus. »Sie können einen Antrag stellen und das Beste hoffen. Oder vielleicht versuchen Sie es mit einer so genannten independent adoption. Das heißt, Sie würden mit Suhrab für die nächsten zwei Jahre hier in Pakistan leben müssen. Oder Sie beantragen für ihn Asyl; in dem Fall müssten Sie sich auf ein längeres Verfahren einrichten und nachweisen, dass er in seinem Heimatland politisch verfolgt wird. Sie könnten auch bei der Staatsanwaltschaft eine Aufenthaltsgenehmigung beantragen, doch die wird nur in ganz seltenen Fällen ausgestellt.« Er stockte. »Es gibt da allerdings noch etwas, und das könnte Ihre Chance sein.«
»Was?«, drängte ich.
»Sie könnten ihn einem hiesigen Waisenhaus zur Verwahrung geben und
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