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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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Koffer.
    Jemand schrie. Nein, es war kein Schreien. Es war ein Wehklagen. Ich sah, dass die Passagiere sich zu einem Kreis zusammengedrängt hatten, vernahm ihre aufgeregten Stimmen. Jemand äußerte das Wort »Dämpfe«. Ein anderer sagte es ebenfalls. Das Klagen verwandelte sich in ein Kreischen, das die Kehle zu zerreißen drohte.
    Baba und ich eilten auf die Gruppe zu und schoben uns nach vorn durch. Kamais Vater saß dort, inmitten des Kreises, im Schneidersitz, schaukelte vor und zurück und küsste das aschfahle Gesicht seines Sohnes.
    »Er will nicht atmen! Mein Junge will nicht atmen!«, schrie er. Kamais lebloser Körper lag im Schoß seines Vaters. Seine geöffnete, schlaffe rechte Hand hüpfte im Rhythmus der Schluchzer seines Vaters auf und ab. »Mein Junge! Er will nicht atmen! Warum hilft ihm Allah nicht, zu atmen?«
    Baba kniete sich neben ihn und legte einen Arm um seine Schulter. Aber Kamais Vater schubste ihn weg, kam auf die Beine und stürzte sich auf Karim, der mit seinem Cousin in der Nähe stand. Dann ging alles so schnell, so überstürzt, dass man es kaum als Handgemenge bezeichnen konnte. Karim stieß einen überraschten Schrei aus und taumelte zurück. Ich sah einen Arm, der ausholte, ein Bein, das trat. Einen Moment später stand Kamais Vater mit Karims Pistole in der Hand da.
    »Nicht schießen!«, schrie Karim.
    Aber bevor irgendjemand etwas sagen konnte, steckte sich Kamais Vater den Lauf der Waffe in den eigenen Mund. Ich werde niemals das Echo dieses Schusses vergessen. Und das helle Aufblitzen und das umherspritzende Rot.
    Ich krümmte mich und übergab mich am Straßenrand.
    11
    Fremont, Kalifornien, 80er Jahre
    Bab a liebte die Vorstellung von Amerika.
    Tatsächlich dort zu leben brachte ihm ein Magengeschwür ein.
    Ich erinnere mich noch daran, wie wir beide durch den Lake Elizabeth Park in Fremont spaziert sind, der ein paar Straßen weit von unserer Wohnung entfernt lag, den Jungen beim Baseballspielen zusahen und an kleinen Mädchen vorübergingen, die kichernd auf den Schaukeln des Spielplatzes saßen. Auf diesen Spaziergängen klärte mich Baba in langatmigen Vorträgen über seine politischen Anschauungen auf. »Es gibt nur drei echte Männer auf dieser Welt, Amir«, verkündete er und zählte sie an seinen Fingern auf: die Vereinigten Staaten von Amerika - der draufgängerische Retter -, Großbritannien und schließlich Israel. »Der Rest...« an dieser Stelle wedelte er mit der Hand und gab ein »Pffffffft« von sich, »das sind doch bloß tratschende alte Weiber.«
    Das mit Israel brachte ihm den Zorn der Afghanen ein, die in Fremont lebten und ihm vorwarfen, projüdisch zu sein und de facto antiislamisch. Baba traf sich mit ihnen zu Tee und rowt- Kuchen im Park und machte sie mit seinen politischen Ideen verrückt. »Sie wollen einfach nicht begreifen«, erklärte er mir hinterher, »dass die Religion nichts damit zu tun hat.« Babas Ansicht nach stellte Israel eine Insel »echter Männer« in einem Meer von Arabern dar, die zu sehr damit beschäftigt waren, von ihrem Ol fett zu werden, anstatt sich um ihre eigenen Leute zu kümmern. »Israel macht dies, Israel macht das«, sagte Baba mit einem nachgeahmten arabischen Akzent. »Dann unternehmt doch was! Tut was! Ihr seid Araber, also helft den Palästinensern!«
    Er verabscheute Jimmy Carter, den er als einen »Kretin mit Pferdegebiss« bezeichnete. 1980, als wir noch in Kabul waren, hatten die USA erklärt, sie würden die Olympischen Spiele in Moskau boykottieren. »Blabla!«, rief Baba damals empört, »Breschnew massakriert die Afghanen, und alles, was diesem Erdnussfresser einfällt, ist, dass er nicht in einem russischen Schwimmbecken plantschen will.« Baba glaubte, dass Carter, ohne es zu wollen, mehr für den Kommunismus getan habe als Leonid Breschnew. »Er ist nicht dafür geeignet, dieses Land zu lenken. Es ist so, als würde man einen Jungen, der nicht Fahrrad fahren kann, hinter das Steuer eines nagelneuen Cadillac setzen.« Was Amerika und die Welt brauchten, war ein starker Mann. Ein Mann, mit dem man rechnen musste, jemand, der zur Tat schritt und nicht bloß die Hände rang. Dieser Jemand war Ronald Reagan. Und als Reagan im Fernsehen auftrat und die Shorawi als »Reich des Bösen« bezeichnete, ging Baba hin und kaufte ein Bild des grinsenden Präsidenten, auf dem er beide Daumen in die Höhe streckte. Er steckte das Bild in einen Rahmen und hängte es in unserem Flur auf, hängte es an einen Nagel

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