Drachenläufer
fest? Ich hätte am liebsten meine Hände ausgestreckt, die Luft in kleine Stücke zerbrochen und sie mir in die Luftröhre gesteckt. Und dann der Benzingestank. Meine Augen brannten von den Dämpfen, als hätte jemand die Lider zurückgeklappt und Zitronensaft darauf verrieben. Meine Nase fing bei jedem Atemzug Feuer. Ein Ort zum Sterben, dachte ich. Ein Schrei stieg in mir auf. Stieg und stieg ...
Und dann ein kleines Wunder. Baba zog an meinem Ärmel, und etwas leuchtete grün im Dunkeln. Licht! Babas Armbanduhr. Meine Augen wichen nicht mehr von diesen fluoreszierenden grünen Zeigern. Ich hatte solche Angst, sie zu verlieren, dass ich nicht einmal zu blinzeln wagte.
Langsam nahm ich meine Umgebung wahr. Ich vernahm Stöhnen und gemurmelte Gebete. Ich hörte das Weinen eines Babys, die leisen, beruhigenden Worte der Mutter. Jemand würgte. Ein anderer verfluchte die Shorawi. Der Wagen hüpfte von einer Seite zur anderen, auf und ab. Köpfe schlugen gegen Metall.
»Denk an etwas Schönes«, flüsterte mir Baba ins Ohr. »An einen glücklichen Moment.«
An etwas Schönes. An einen glücklichen Moment. Ich schickte meine Gedanken auf die Reise. Kam an ein Ziel:
Freitagnachmittag in Paghman. Apfelgrüne Wiesen, gesprenkelt mit blühenden Maulbeerbäumen. Hassan und ich stehen knöcheltief im wild wuchernden Gras, ich ziehe an der Schnur, die Spule dreht sich in Hassans schwieligen Händen, unsere Augen sind auf den Drachen am Himmel gerichtet. Wir wechseln kein Wort, nicht weil wir uns nichts zu sagen hätten, sondern weil wir nichts zu sagen brauchen - so ist das eben zwischen Menschen, für die der andere zu einer der ersten Erinnerungen im Leben gehört, die von derselben Brust getrunken haben. Eine Brise streicht durch das Gras, und Hassan lässt die Spule rollen. Der Drachen gerät ins Trudeln, stürzt, fängt sich wieder. Unsere Zwillingsschatten tanzen auf dem sanft wogenden Gras. Von irgendwoher auf der anderen Seite der niedrigen Backsteinmauer, am anderen Ende der Wiese, vernehmen wir Geplapper und Lachen und das Plätschern eines Springbrunnens. Und Musik, etwas Altes und Vertrautes, ich glaube, es ist Ya Mowlah mit seiner rubab. Irgendjemand ruft unsere Namen über die Mauer, sagt, es sei Zeit für Tee und Kuchen.
Ich wusste nicht mehr, in welchem Monat dies war oder in welchem Jahr. Ich wusste nur, dass diese Erinnerung in mir lebte, ein vollkommen konserviertes Stück einer guten Vergangenheit, ein bunter Tupfer auf der öden grauen Leinwand, zu der unser Leben geworden war.
An den Rest der Fahrt habe ich nur noch vereinzelte Erinnerungsfetzen, die kommen und gehen, meist Laute und Gerüche: Migs, die über uns hinwegfliegen, das Stakkato von Geschützfeuer, ein in der Nähe schreiender Esel, das Bimmeln von Glöckchen und das Blöken von Schafen, knirschender Schotter unter den Reifen des Lastwagens, ein Baby, das im Dunkeln wimmert, der Gestank von Benzin, Erbrochenem und Exkrementen.
Die nächste Erinnerung ist das blendende Licht des frühen Morgens, als wir aus dem Tank hinausklettern. Ich weiß noch, wie ich mein Gesicht dem Himmel zuwandte, mit zusammengekniffenen Lidern nach oben schaute, atmete, als gäbe es bald keine Luft mehr auf der Erde. Ich lag am Rand einer unbefestigten Straße neben einem steinigen Graben, blickte in den grauen Morgenhimmel hinauf und war dankbar für die Luft, dankbar für das Licht, dankbar, am Leben zu sein.
»Wir sind in Pakistan, Amir«, sagte Baba. Er stand neben mir und sah auf mich herunter. »Karim sagt, er wird uns einen Bus besorgen, der uns nach Peshawar bringt.«
Ich rollte mich auf der kühlen Erde auf den Bauch und erblickte unsere Koffer, die rechts und links von Babas Füßen standen. Durch das umgekehrte V seiner Beine sah ich den Tankwagen, der mit laufendem Motor am Straßenrand stand. Die anderen Flüchtlinge kletterten die Leiter hinunter. Dahinter erstreckte sich die unbefestigte Straße, lief zwischen Feldern hindurch, die unter dem grauen Himmel bleiernen Platten glichen, ehe sie hinter einer Hügelkette verschwand. Unterwegs führte sie an einem kleinen Dorf vorbei, das sich über einen sonnenverbrannten Abhang verteilte. Ich vermisste Afghanistan schon jetzt.
Meine Augen kehrten zu unseren Koffern zurück. Bei ihrem Anblick tat mir Baba Leid. Nach allem, was er aufgebaut und geplant, wofür er gekämpft, worüber er sich aufgeregt und wovon er geträumt hatte, war dies nun die Summe seines Lebens: ein enttäuschender Sohn und zwei
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