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Drachenläufer

Drachenläufer

Titel: Drachenläufer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Khaled Hosseini
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geschlichen, in unser Lachen und in unser Liebesspiel. Und in der Nacht spürte ich in der Dunkelheit unseres Zimmers, wie sie von Soraya aufstieg und sich zwischen uns legte. Zwischen uns schlief. Wie ein neugeborenes Kind.
    14
    Juni 2001
    Ich legte den Hörer auf die Gabel und starrte lange Zeit auf den Apparat. Erst als Aflatoon mich mit einem Kläffen aufschreckte, bemerkte ich, wie ruhig es im Zimmer geworden war. Soraya hatte den Ton des Fernsehers ausgeschaltet.
    »Du siehst blass aus, Amir«, sagte sie, auf dem Sofa liegend, das uns ihre Eltern zum Einzug in unsere erste Wohnung geschenkt hatten. Sie hatte die Beine unter den abgenutzten Kissen vergraben, während Aflatoon seinen Kopf an ihren Brustkasten schmiegte. Sie war halb damit beschäftigt, sich eine Dokumentation über Wölfe in Minnesota anzusehen, und halb damit, Aufsätze zu korrigieren - sie unterrichtete schon seit sechs Jahren an derselben Schule. Nun setzte sie sich auf, und Aflatoon sprang vom Sofa herunter. Es war der General, der unserem Cockerspaniel den Namen Aflatoon gegeben hatte - das Farsi-Wort für Plato -, weil man, wie er behauptete, wenn man ganz tief und lange genug in die verschleierten schwarzen Augen des Hundes blickte, hätte schwören können, dass ihn kluge Gedanken beschäftigten.
    Da war nun ein Scheibchen Fett, eine bloße Andeutung, unter Sorayas Kinn. Die letzten zehn Jahre hatten die Kurven ihrer Hüften ein wenig gepolstert und ein paar aschgraue Strähnen in ihr rabenschwarzes Haar gewoben. Aber mit ihren Augenbrauen, die an Vögel im Flug erinnerten, und ihrer Nase, die so elegant geschwungen war wie ein Buchstabe aus alten arabischen Schriften, hatte sie immer noch das Gesicht einer Ballprinzessin.
    »Du siehst blass aus«, wiederholte Soraya und legte den Papierstapel, den sie in der Hand hielt, auf den Tisch.
    »Ich muss nach Pakistan.«
    Jetzt stand sie auf. »Nach Pakistan?«
    »Rahim Khan ist sehr krank.« Bei diesen Worten ballte sich etwas in meinem Innern zur Faust.
    »Kakas alter Geschäftspartner?« Sie hatte Rahim Khan nie kennen gelernt, aber ich hatte ihr von ihm erzählt. Ich nickte.
    »Oh«, sagte sie. »Das tut mir Leid, Amir.«
    »Wir standen uns einmal sehr nah«, sagte ich. »Als Kind war er der erste Erwachsene für mich, den ich als Freund betrachtete.« Ich sah die beiden vor mir, Baba und Rahim Khan, wie sie im Arbeitszimmer Tee tranken und anschließend, am Fenster sitzend, rauchten, während eine Brise den Duft der Heckenrosen aus dem Garten ins Zimmer trug und den Rauch ihrer Zigaretten kräuselte.
    »Ich erinnere mich noch daran, wie du mir von ihm erzählt hast«, sagte Soraya. Sie verstummte für einen Augenblick, ehe sie fragte: »Wie lange wirst du weg sein?« »Ich weiß es noch nicht. Er will mich sehen.« »Ist es nicht...«
    »Nein, es ist nicht gefährlich. Mir wird nichts geschehen, Soraya.« Ich wusste, dass sie genau das hatte einwenden wollen - fünfzehn Jahre Ehe hatten uns in Gedankenleser verwandelt. »Ich werde einen Spaziergang machen.«
    »Soll ich dich begleiten?«
    »Nein, ich gehe lieber allein.«
    Ich fuhr zum Golden Gate Park und ging am Spreckels Lake am nördlichen Rand des Parks spazieren. Es war ein wunderschöner Sonntagnachmittag, die Sonne glitzerte auf dem Wasser, wo Dutzende von Spielzeugbooten, von einer frischen San-Francisco-Brise angetrieben, dahinsegelten. Ich setzte mich auf eine Parkbank, sah einem Mann zu, der mit seinem Sohn Football spielte und ihm erklärte, dass es besser war, den Ball nicht von der Seite, sondern über die Schulter hinweg zu werfen. Als ich aufblickte, entdeckte ich am Himmel zwei Drachen - rot mit langen blauen Schwänzen. Sie tanzten hoch oben über den Bäumen am westlichen Ende des Parks.
    Ich dachte an eine Bemerkung, die Rahim Khan, kurz bevor er auflegte, gemacht hatte. Ganz beiläufig, als wäre es ihm im letzten Moment noch eingefallen. Ich schloss die Augen und sah ihn am anderen Ende der Leitung vor mir, sah die leicht geöffneten Lippen, den zur Seite geneigten Kopf. Und wieder deutete etwas in seinen schwarzen, unergründlichen Augen auf ein unausgesprochenes Geheimnis zwischen uns hin. Bloß dass ich nun die Gewissheit besaß, dass er es wusste. Meine Vermutung war also all die Jahre richtig gewesen. Er wusste Bescheid über Assef, den Drachen, das Geld, die Uhr mit den Zeigern, die wie Blitze aussahen. Er hatte es immer gewusst.
    Komm. Es gibt eine Möglichkeit, es wieder gutzumachen, hatte Rahim Khan kurz vor

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