Drachenland: Roman (German Edition)
Kiortes Augen traf ihn wie ein Schlag mit der Faust.
»Er ist tot«, sagte Kiorte.
Falkenwind sagte nichts. Auch die anderen schwiegen. Kiorte erhob sich langsam. Er zitterte. Er machte einen Schritt auf Falkenwind zu. Zwei Soldaten traten rasch vor, die Schwerter halb gezogen, um ihren Monarchen zu beschützen. Falkenwind berührte sie kurz an der Schulter und bedeutete ihnen, zur Seite zu treten. Er sah Kiorte an.
»Thalen ist tot«, sagte Kiorte noch einmal, »und ich mache Euch, Falkenwind, dafür verantwortlich.« Halb schreiend, halb schluchzend sagte er: »Ihr habt die Truppen ins Südland geschickt! Sonst wäre dieser lächerliche Krieg längst vorbei!« Seine Augen blickten wild und schimmerten von zurückgehaltenen Tränen. Dann drehte er sich heftig um und entdeckte Tweel, der immer noch entsetzt die Armbrust in den Händen hielt. Kiorte gab einen unartikulierten Laut von sich und machte einen Satz auf ihn zu, die Hände auf Tweels Hals gerichtet. Willen und mehrere andere Männer hatten Mühe, ihn zurückzuhalten. Einen Augenblick lang tobte Kiorte unter ihrem Griff, dann fand er, offensichtlich mühsam, seine Selbstbeherrschung wieder. Einige der Soldaten wandten sich voller Unbehagen bei dem Gefühlsausbruch des sonst so verschlossenen Prinzen ab, Kiorte sah wieder Falkenwind an.
»Evirae hat wohl doch recht!«, sagte er. Dann beugte er sich hinunter, hob Thalens Leiche vom Boden und trug ihn zu seinem Windschiff. Er legte seinen Bruder behutsam aufs Deck und stieg mit dem Windschiff wieder auf.
Alle blickten ihm nach, als er rasch in Richtung Oberwald davonsegelte. Vora legte die Hand auf Falkenwinds Schulter. »Ihr seid nicht verantwortlich für diesen Unglücksfall«, sagte er leise. »Es war Kiortes Kummer, der aus ihm sprach.«
Die Winde trieben das Windschiff rasch nach Norden. Schon nach einer guten Stunde hatte Amsel den Wald von Nordwelden überquert. Kurze Zeit später entdeckte er die niedrigen Klippen und Strände der simbalesischen Nordküste, und dann holte er tief Luft – und flüsterte: »Das Drachenmeer! Von hier an ist alles neu für mich.«
Er wandte sich zum Bug des Schiffes und sah in den Wolken vor ihm einen schwarzen Schatten langsam auf- und absteigen. Der Frostdrache flog vor ihm her und wusste offensichtlich genau, was er wollte. Amsel eilte zum Klüverbaum und zurrte ein Vorsegel fest, das der Wind gelockert hatte, dann überprüfte er die Klampen an der Luvseite.
»Alles in Ordnung«, sagte er erleichtert. »Jetzt kann ich es wagen, einen kurzen Blick in die Kajüte zu werfen.«
Während er die Stufen hinunterstieg, dachte er an den Krieg und an die junge Frau, die ihre Freiheit für seine Sicherheit aufs Spiel gesetzt hatte. Es gab inzwischen viele Menschen, denen er sein Leben verdankte, und ihm wurde klar, dass seine Tage der Einsamkeit, des Experimentierens und der Gärtnerei, der Erfindungen und der Konstruktionen nicht so bald wiederkehren würden. Er hatte sich immer als einen Menschen betrachtet, der niemanden belästigte und dafür ebenfalls in Ruhe gelassen wurde. Aber dann hatte er sich mit Johan angefreundet und … Er schüttelte abwehrend den Kopf und öffnete die Tür zur Kajüte. Er fand einen klug durchdachten Raum vor, voller Wandschränkchen aus Holz und mit vier aufgespannten Hängematten aus Tansel-Gewebe. Amsel fand Decken für die Besatzung, Ersatzseile und Segeltuchflicken und im letzten Schrank endlich ein Dutzend sorgfältig verpackter Brotlaibe.
Hungrig und erschöpft nach allem, was er hinter sich hatte, machte Amsel sich über einen kleinen Brotlaib her. Er kannte diese Art Brot nicht, es war leicht und schmeckte süßlich; wahrscheinlich wurde es eigens zur Stärkung der Windsegler hergestellt.
Amsel wurde plötzlich sehr müde. »Nein«, sagte er, »ich muss wach bleiben.« Er wickelte sich in eine Decke und kehrte auf das kalte Oberdeck zurück. Dort setzte er sich auf eine schmale Sitzbank am Bug und blickte schläfrig in den Dunst hinaus. Wieder hatte er den inzwischen vertrauten Anblick des Drachen vor sich, und nach einer Weile wirkten das Rauschen des Windes und der gleichmäßige Flügelschlag des Frostdrachen hypnotisch auf Amsel. Er fühlte, wie er wieder müde wurde, und diesmal konnte er dem Schlaf nicht mehr widerstehen.
Mit einem Ruck kam er wieder zu sich. Das Windschiff schlingerte wild hin und her und verlor an Höhe. »Was für ein Dummkopf ich bin!«, schrie Amsel und sprang rasch auf, um eine Leine zu
Weitere Kostenlose Bücher