Drachenland: Roman (German Edition)
packen, die gegen die Falten eines Segels schlug. Er blickte über Bord. Es war immer noch nichts anderes als das Meer zu sehen. Er hatte keine Ahnung, wie lange er geschlafen hatte – eine Stunde oder einen Tag? Das graue Licht hatte sich nicht verändert.
»Mein Freund fliegt immer noch vor mir her«, murmelte er, während das Schiff in eine Wolke eintauchte.
Er lief zum komplizierten Takelwerk am Heck des Schiffes. Das Schiff begann, heftig zu schaukeln, weil der Seitenwind viel stärker als der Rückenwind geworden war. Aus seiner kurzen Erfahrung in der Straße von Balomar wusste Amsel, dass er diese Strömungen ausnutzen musste, um das Schiff auf seinem Nordkurs zu halten. Er ergriff die Großsegel und zog sie vorsichtig ein.
Es dauerte einen Augenblick, bis das Segel reagierte, aber nach einem kurzen Intervall des Anluvens und Abfallens fand das Windschiff allmählich wieder sein Gleichgewicht und flog einen nördlichen Kurs. Amsel seufzte erleichtert auf. Ephrion hatte recht gehabt – er konnte wirklich ein Windschiff fliegen!
Lange Zeit später flog er immer noch nach Norden. Er konnte unter dem Windschiff nichts mehr sehen, weil die Wolken sich zu sehr verdichtet hatten. Wahrscheinlich war er jetzt nicht mehr über dem Meer.
Amsel fühlte sich sehr einsam und klein. Er wünschte sich – er, Amsel, der Einsiedler! – die Gesellschaft eines anderen menschlichen Wesens; er hätte sich gern unterhalten. Es war ein ganz neues Gefühl für ihn.
Amsel lauschte den Geräuschen um ihn herum, dem Lied der Segel, dem Pfeifen des eisigen Windes und dem fernen Flügelschlag des Frostdrachen. Was wusste er noch von Drachen?
In all den Jahren hatte er sich nie besonders für Drachengeschichten interessiert. Schließlich ging es da um Geschöpfe der Fantasie, und seine Interessen waren wissenschaftlicher Art. Sicher hatte er als Kind über die edlen Geschöpfe gelesen, die in hellen Felshöhlen lebten. In diesen Märchen wurden Kinder des Südlands mit langen Abenteuerreisen auf dem Rücken eines Drachen belohnt, wenn sie besonders brav gewesen waren. Als Amsel dann heranwuchs, stieß er manchmal auf Hinweise über Drachen in der Literatur anderer Länder. Zurückblickend wurde ihm klar, wie außergewöhnlich übereinstimmend die Beschreibungen dieser Geschöpfe gewesen waren. Er hatte es damals dem gemeinsamen Ursprung dieser Geschichten im Südland zugeschrieben, aber jetzt hielt er eine erstaunlichere Erklärung für möglich.
Er erinnerte sich jetzt auch an einen Schriftsteller aus Bundura, der Seiten über Seiten über die leuchtenden Höhlen schrieb, Worte, die so hell waren wie der Mond. Und ihm fiel eine andere kurze, poetische Stelle über einen Schatz der Drachen ein, legendäre Steine, die in sich die Geheimnisse der Geschöpfe bargen.
Übereinstimmend in all den Geschichten hatten die Drachen vier Beine, dunkelblaue Augen, wunderschöne Flügel und die Fähigkeit, Feuer zu speien. Dieser Frostdrache aber hatte zwei Beine und leuchtend gelbe Augen. Ob er Feuer speien konnte, wollte Amsel vorerst lieber nicht herausfinden. Manchmal konnte wissenschaftlicher Eifer tödlich sein.
Frostdrache oder Drache, dachte er, wohin bringst du mich? Zu den Leuchtenden Höhlen? In ein vergessenes Land? Wie viel deiner Legende ist gar keine Legende?
Stunden später erhielt Amsel die Antwort.
Er war schon geraume Zeit in einer vom Wind vorangetriebenen Wolke gesegelt, als diese endlich aufriss. Im Licht der untergehenden Sonne sah Amsel, dass in nicht allzu weiter Entfernung eine Küste lag. Sie glich keiner der Küsten in Fandora oder Simbala.
Er durchquerte eine weitere Wolke, und als er wieder klare Sicht hatte, konnte er das Land jenseits der Küste sehen.
Es war ein ödes, finsteres Land, ein Land der scharfen Grate und der nadelspitzen Berggipfel – Einsamkeit und Verzweiflung hatten eisige Gestalt angenommen. Es war ein Land der Dunkelheit, ein Land, das kein menschliches Leben zuließ. Ein Fluss wand sich durch einen Boden, der aus Lavaschichten bestand. Dahinter lagen verwitterte, kantige Felsbrocken aufeinandergetürmt, als hätte das Kind eines Riesen sie gleichgültig dorthin geworfen. Die Felsen waren von schwarzer, brauner und rostroter Farbe, und der Wind fegte dazwischen hindurch. Hinter den Felsbrocken erhoben sich Berge, neben denen die Gipfel von Simbala wie Zwerge ausgesehen hätten. Stolz und herausfordernd, manche von ihnen in Eis gehüllt, die meisten zu steil für Schnee, setzten sie
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