Drachenland: Roman (German Edition)
Johan getötet hatten: gab es irgendeinen Grund, anzunehmen, dass sie nicht auch andere Fandoraner töten würden?
»Ältester Jondalrun!«, ertönte vom Fenster her ein Ruf. Es war die Stimme eines Mädchens. »Wir haben Ärger in der Stadt!«
Jondalrun wandte sich unmutig ab von seinem Sohn, der ihm noch nicht geantwortet hatte. Dayon folgte ihm. Sie hasteten durch die Schenke, die jetzt gefüllt war mit verschmutzten, nach Getränken rufenden Männern. »Gut!«, sagte Jondalrun. »Die Truppen aus den anderen Städten treffen jetzt ein.«
Sie traten auf die Straße und waren entsetzt über das Bild, das sich ihnen bot: Scharen zerlumpter Gestalten, die wild durcheinanderrannten, zu stehlen und zu plündern begannen. Schreie und Schimpfworte ertönten aus den größeren Straßen zusammen mit den klagenden Rufen des verängstigten Viehs.
Dayon und Jondalrun überquerten die Straße von der Graywood-Schenke zum alten Stall. Dayon beobachtete seinen Vater genau. Zu seiner Überraschung sah er Unsicherheit im Gesicht seines Vaters, Unsicherheit und eine zunehmende Angst, die nicht gut zu den strengen Zügen passte. Jondalrun sah sich um: An jeder Ecke tauchten weitere Männer auf.
»Das sind nur die Ersten!«, hörte Dayon ihn sagen. »Es werden noch Hunderte kommen!« Jondalrun setzte sich auf ein Fass. »Du siehst, wie sehr wir Hilfe brauchen!«, sagte er zu seinem Sohn, und seine Hände zitterten plötzlich.
Dayon nickte. Zum ersten Mal waren die Ängste, die sich hinter Jondalruns Worten verbargen, an seiner Stimme deutlich zu erkennen. Der junge Mann legte seine Hand auf Jondalruns Schulter. »Wir werden versuchen, unser Bestes zu tun«, sagte er. »Komm, Vater, ich werde dir helfen.«
14
Unter Oberwald lag ein gewaltiges Labyrinth: Obwohl die Bäume Oberwalds alt waren nach simbalesischem Maßstab, starben sie doch irgendwann einmal und verfaulten, und ihre Wurzeln wurden von kleinen Insekten und Kerbtieren im Lauf der Zeit beseitigt und ließen große Tunnel zurück.
In einem dieser Tunnel, in dem nur gelegentlich das Fallen eines Wassertropfens zu hören war, schimmerte ein gelbes Licht. Es bewegte sich gleichmäßig auf und ab und wurde stetig heller. Es war eine Fackel, ein langer, aus gepresstem Feuermoos hergestellter Stock, der mit reiner, gleichmäßiger Flamme brannte.
Vier Menschen bewegten sich unbehaglich den Tunnel entlang, den Geruch von Fäulnis in der Nase, die Nerven angespannt wegen der Geräusche unzähliger Nagetiere und Nachtwesen, die man wohl hören, nicht aber deutlich sehen konnte in der Dunkelheit.
Die Fackel wurde sicher gehalten von Prinzessin Evirae, die in ihren langen Gewändern hier lächerlich fehl am Platze war und sich von Zeit zu Zeit tief bücken musste, um zu vermeiden, dass ihr Haaraufbau sich in den lehmverkrusteten Wurzeln über ihr verfing. Hinter ihr ging Mesor, angespannt und distanziert. Hin und wieder gestattete er sich heimlich ein belustigtes Lächeln, wenn die Prinzessin mit Kleid oder Haar irgendwo hängen blieb.
Baron Tolchin und Baronesse Alora waren verärgert über die Prinzessin. Dank ihrer Intelligenz und Abstammung gehörten sie zu den geachtetsten Mitgliedern der königlichen Familie. Bei allem Reichtum trugen sie nur einfache Kleider für ein so widerwärtiges Unterfangen wie dieses hier.
»Meine liebe Prinzessin«, sagte Baron Tolchin in dem ungewöhnlich förmlichen Ton, den er wählte, wenn er Unbehagen zum Ausdruck bringen wollte: »Bei allem schuldigen Respekt erwarten meine Gemahlin und ich, den Grund für diese Eskapade zu hören! Die Erklärung, dass es sich um eine dringende Staatsangelegenheit handele, genügt uns nicht.«
»Stellt Ihr die Weisheit der Prinzessin infrage?«, erkundigte sich Mesor mit sanfter Stimme.
»Nur insofern, als sie dich in ihren Diensten behält«, sagte Alora bissig. »Nimmst du dir heraus, für die Prinzessin zu antworten?«
Mesor zog sich mit einem leichten Lächeln zurück. Es verbarg den Aufruhr in seinem Magen. Aloras Zurechtweisung erinnerte ihn daran, dass trotz Falkenwinds Anwesenheit im Palast immer noch ein großer Unterschied bestand zwischen dem königlichen Kreis und der königlichen Familie. In seiner Eigenschaft als Ratgeber Eviraes gehörte er dem Kreis an, aber diese Position bot weder die mit königlicher Abstammung verbundene Sicherheit noch das entsprechende Ansehen. Er kam aus den Reihen von Aloras Kämmerern, von der Prinzessin selbst ausgewählt, aber ein Wort von Tolchin
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