Drachenland: Roman (German Edition)
setzte sich wieder und tauchte die Feder noch einmal in das Tintenfass. Sie schrieb fieberhaft.
Einen Augenblick später betrat ein Adjutant den Raum. Evirae versiegelte den Brief und reichte ihn dem Adjutanten.
»Bring diese Botschaft umgehend Baron Tolchin«, sagte sie. »Sorge dafür, dass sie ihn erreicht – weck ihn auf, wenn es nötig ist -, und sage Mesor, dass ich ihn sofort sehen möchte.«
Als der Adjutant gegangen war, umschlang sie ihre Knie vor Freude – nur beeinträchtigt durch die Tatsache, dass ihr Gemahl noch nicht zurückgekehrt war.
Der Trupp aus Borgen hatte die Nacht über vor Durbak gelagert. Proviantknappheit hatte für beträchtliche Unzufriedenheit gesorgt, besonders unter den Halunken, die Tenniel hatte anwerben müssen. Ein großer, schwarzbärtiger Straßenräuber mit dem Namen Grend, der nur noch ein Ohr hatte, trat auf Tenniel zu. »Nicht genug zu essen!«, beschwerte er sich. »Wir haben Hunger!«
»Alle waren angewiesen, für unterwegs mitzunehmen, was sie ohne Mühe tragen konnten«, sagte Tenniel. »Was ist dazwischengekommen?«
Der Straßenräuber grinste ein zahnloses Grinsen. »Wir hatten nichts mitzunehmen.«
Tenniel fand, dass er Grend wegen seiner Armut keine Vorwürfe machen konnte. Er blickte nach Westen, auf Durbak.
»Dann müssen wir wohl dort Proviant requirieren.«
Grend grinste wieder wie über einen nur ihm bekannten Witz.
Tenniel führte den Trupp nach Durbak. Auf dem Marktplatz wurden sie von einer Gruppe Frauen aller Altersstufen und mehreren alten Männern empfangen. »Was wollt ihr hier?«, fragte eine große, hagere, grauhaarige Frau mit energischer Stimme. Tenniel zögerte. »Wo sind die Ältesten?«, fragte er schließlich. »Ich muss mit ihnen sprechen.«
»Zwei sind in den Krieg gezogen«, erwiderte die Frau. »Iben, der dritte, ist gestern krank geworden. Ich bin seine Frau, Vila. Ich habe jetzt seine Aufgaben übernommen.«
Mehrere Männer hinter Tenniel murmelten erstaunt miteinander oder kicherten. Eine Frau als Älteste? Auch Tenniel brauchte einen Moment, um das zu begreifen.
»Wir brauchen was zu essen«, sagte er töricht.
»Wir auch«, entgegnete Vila. »Ihr hättet mehr Proviant mitnehmen sollen. Kehrt in eure eigene Stadt zurück und beschafft euch neue Vorräte.«
»Dazu ist keine Zeit! Es wird bald Krieg sein!«
»Dann jagt nach Kaninchen und Eichhörnchen«, schlug Vila vor. »Grabt Wurzeln aus, sucht nach Beeren. Aber nehmt uns nicht unsere Vorräte weg, sie sind alles, was wir bis zur Rückkehr unserer Männer haben.«
»Das glaube ich nicht!«, schrie Tenniel. »Dies ist eine wohlhabende Stadt, und ihr weigert euch, Männer mit Proviant zu versorgen, die in den Krieg ziehen, um euch zu beschützen!«
Zum ersten Mal wurde seine Autorität auf die Probe gestellt, und er war sich nur zu bewusst, wie lächerlich er wirkte. Seine Stimme wurde schrill. Er wurde von einer Frau herumkommandiert!
»Es tut uns leid«, sagte Vila, »aber wir müssen zuerst an uns selbst und an unsere Kinder denken.«
»Und ich sage, die Leute sind uns das schuldig«, schrie Grend. »Ich werde mir mein Essen schon besorgen!« Die anderen Mitglieder seiner Räuberbande stimmten ihm lautstark zu und liefen unter Grends Führung die Straße hinunter, die Bewohner grob zur Seite stoßend.
»Halt!«, brüllte Tenniel, aber es war zwecklos.
Schon nach wenigen Minuten kamen die Plünderer durch die Hauptstraße zurück, hochbepackt mit Lebensmitteln. Aber da prasselte von den Dächern plötzlich ein Hagel von Ziegelsteinen und Felsbrocken auf sie herunter. Die Männer versuchten, sich zu schützen und zu entkommen, aber Vila rief, mit Ziegeln in der Hand, von einem Dach hinunter: »Weitermachen! Sonst haben wir keine Minute Ruhe, bis der Krieg zu Ende ist!«
»Das können die nicht machen!«, brüllte Grend. Er hob einen Stein auf und schleuderte ihn auf Vila. Sie duckte sich, aber der Stein traf sie an der Schulter, und sie stürzte. Sie rutschte das halbe Dach hinunter, bevor sie sich am Schornstein festhalten konnte.
Einen Augenblick lang herrschte auf beiden Seiten Stille. Selbst die wilde Horde der Plünderer konnte kaum fassen, dass einer von ihnen die Frau des ranghöchsten Ältesten angegriffen hatte. Grend sah seine Gefährten drohend an. »Sie wollte es nicht anders! Wir nehmen uns bloß, was uns zusteht! Kommt jetzt!« Er marschierte hinaus auf die Straße, gebückt unter der Last eines mit Lebensmitteln gefüllten Sackes. Die anderen
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