Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
Dragatsnu behauptet hatte, die
Tintenzeichnung hätte etwas mit ihrem Vater zu tun.
Kit brauchte eine Weile, bis sie sich davon überzeugt, sich
beruhigt und ihre Augen getrocknet hatte. Dann kehrte sie zu
Aurelie zurück, die auf dem Rücken liegend eingeschlafen war
und mit einem Lächeln auf den Lippen schlummerte.
»Gute Nachrichten?« fragte ihre hübsche Freundin, nachdem
Kit sie geweckt hatte.
»Hokuspokus«, erklärte Kit mit fester Stimme und einem
Kopfschütteln. »Reine Verschwendung. Komm, es ist spät. Ich
muß nach Hause.«
Eine ganze Weile nach Sonnenuntergang öffnete Kit leise
die Tür zu ihrer Hütte und schlüpfte hinein. Ihr Gesicht war
müde und dreckverschmiert, ihre Kleider schmutzig und
zerrissen. Aber sie hatte die Vorhersage der Zukunftsdeuterin
verdrängt und war ungewöhnlich glücklich. Sie brauchte einen
Moment, bis sich ihre Augen von der Dunkelheit der Nacht an
das merkwürdige Licht drinnen gewöhnt hatten.
»Psst!« Gilon ergriff ihren Arm und zog sie neben sich auf
den Boden herunter.
»Wo bist du gewesen?« wollte Caramon wissen. Er saß
neben seinem Vater.
Ehe sie antworten konnte, flüsterte Gilon: »Ist schon gut.«
Mit der Hand strich er sanft Kits schwarze Haare zurück. »Sieh
nur!«
Jetzt sah sie, was vor sich ging. Raistlin stand in der Mitte
des Raums und gab eine Art Vorstellung. Zaubertricks? Ja,
Raistlin machte Zaubertricks.
»Ich weiß nicht, wie er sie gelernt hat«, vertraute ihr
Caramon an, der sich zu ihr lehnte, »aber er macht das schon
den ganzen Abend. Er ist echt gut!«
Raistlins Gesichtsausdruck war ernst und konzentriert. Der
Junge hielt seine Hände hoch. Dazwischen hing – wie, wußte
Kitiara wirklich nicht
– ein Ball aus weißem Licht. Raists
Hände bewegten sich langsam und flatternd, während aus
seinem Mund ein leiser Singsang von kaum verständlichen
Worten kam, falls es überhaupt Worte waren. Einen
Augenblick lang stellte Kit unbehaglich fest, daß sie sich wie
Rosamunds Geplapper während ihrer Trancen anhörten.
Raistlin bewegte die Hände. Der Lichtball teilte sich in
mehrere Lichtkugeln, mit denen er zu jonglieren begann. Er
machte eine schnelle Bewegung. Die Kugeln teilten sich
erneut, diesmal in Dutzende kleinerer Lichtkugeln. Noch eine
Bewegung, und sie wurden zu Hunderten von Kügelchen, die
wie Schneeflocken glitzerten, dabei aber wie lebendig pochten
und zuckten und sich in einem kunstvollen Muster bewegten.
Schließlich wurden Raistlins Worte und Gesten langsamer.
Auch die Lichter kamen fast zum Stillstand. Gilon, Caramon
und Kit beobachteten schweigend Raistlins Gesicht, das jetzt
einen beinahe schmerzhaft konzentrierten Ausdruck zeigte.
Plötzlich murmelte Raist etwas und machte eine rasche,
gezielte Geste.
Die Lichtbälle begannen zu rotieren, zu wachsen und in
hellen, kräftigen Farben zu erstrahlen. Dann explodierten sie
schneller, als man wahrnehmen konnte, in kleine Figuren:
Feuerblumen, Muschelblüten, kometenhafte Schmetterlinge. Es
war ein Trommelfeuer leiser Knallgeräusche, dem als
Höhepunkt eine weiße Lichtexplosion folgte, die alle
kurzfristig sprachlos und geblendet dasitzen ließ.
»Was ist los? Was ist passiert?« fragte Rosamund mit vor
Schreck zitternder Stimme. Mit ängstlich verzerrtem Gesicht
klammerte sie sich an den Türrahmen ihrer Kammer.
Gilon sprang eilig auf, um sie zurück ins Bett zu bringen und
wieder zu beruhigen.
Jetzt war wieder alles normal. Raistlin kam und setzte sich.
Er streckte Bruder und Schwester die Hände entgegen, und
beide nahmen sie. Kitiara und Caramon lachten vor lauter
Freude, und – was wirklich ungewöhnlich war – Raistlin lachte
mit.
Kapitel 4
Die Zauberschule
Gilon packte etwas Brot und Käse für unterwegs ein,
während Kitiara Raistlin ein letztes Mal musterte. Hände und
Gesicht – sauber. Tunika und Hosen
– an den Knien und
Ellbogen gestopft, aber vorzeigbar. Kit reckte sich und gähnte.
Als Gilon sie heute geweckt hatte, war die vorfrühlingshafte
Sonne noch nicht zu sehen gewesen.
Raistlin sah ihr zu. Wenn Raistlin so still hielt, mußte er
fürchterlich aufgeregt sein, weil er heute in die Zauberschule
gehen sollte, dachte Kitiara. Bei der Aussicht auf einen solchen
Ausflug wäre Caramon
– wie die meisten Sechsjährigen
–
unbändig herumgesprungen und hätte eine Million Fragen
gestellt.
Nicht aber Raistlin. Immer war er ruhig und aufmerksam,
und jetzt, als er seine Vorstellung beim Zaubermeister vor sich
hatte, wurde er noch ruhiger.
»Ich
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