Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
zählte, wurde ihr klar, daß sie nur noch für einen
Blick in die Zukunft reichten.
»Na, geh schon«, sagte Aurelie. Sie hatte Kits Gedanken
gelesen. »Meine Zukunft ist im Moment genau hier.«
Als Kit sich unter der Zeltklappe hindurch duckte, landete
sie genau vor der alten Madame Dragatsnu, einer kleinen,
dunkelhäutigen Frau mit graumeliertem Haar, der am Kinn und
aus der Nase Haare wuchsen.
Die Zukunftsdeuterin trug ein einfaches braunes Kleid und
saß auf einem Webteppich.
Sie wirkte nicht besonders beeindruckend. Als Kit sich
umsah, entdeckte sie keines der geheimnisvollen Hilfsmittel,
die man gewöhnlich mit einem Blick in die Zukunft in
Verbindung brachte
– keine Kristallkugel, keinen Becher mit
Knochen, keine Gläser mit Teeblättern oder so.
»Setz dich, Kind«, sagte Madame Dragatsnu, deren belegte
Stimme leichte Verärgerung verriet. Kit konnte ihren seltsamen
Akzent nicht einordnen.
Kit setzte sich im Schneidersitz der Hellseherin gegenüber.
Madame Dragatsnus glitzernde Augen schienen die Entfernung
zu ihr zu überwinden und sie zu überwältigen.
»Es geht nicht um mich«, sagte das Mädchen leise und sah
plötzlich verlegen nach unten. »Das Schicksal, meine ich.«
»Also deinen Liebsten?«
Kit sah trotzig hoch. »Nein.« Sie legte die Gutscheine hin,
die sie fest in der Hand gehalten hatte, und schob sie der alten
Frau hin. Die nickte.
»Hast du etwas, das dieser Person gehört?«
Kit griff in ihre Tunika und zog ein Stück Pergament heraus
– das solamnische Wappen ihres Vaters. Sie hatte es heute
eingesteckt, weil sie gehofft hatte, Leute aus jener Region zu
sehen, die ihr vielleicht Auskunft über Gregor oder seine
Familie geben konnten, wenn sie ihnen das Wappen zeigte.
»Es ist – «
»Dein Vater«, schnitt Madame Dragatsnu ihr das Wort ab.
Kit sah die Wahrsagerin hoffnungsvoll an. Madame
Dragatsnu drehte das Pergament immer wieder in den Händen
und betastete regelrecht sinnlich seine Oberfläche, als wäre es
ein seltener Stoff. Während sie das tat, starrte sie nicht Gregors
solamnisches Symbol, sondern Kit selbst an. Ihr
undurchschaubarer Gesichtsausdruck verriet Kit überhaupt
nichts, aber wie ihre Augen glühten!
»Ich hatte gehofft«, sagte Kit wieder leise, »daß Ihr mir
vielleicht sagen könnt, wo er ist.«
»Ich sage nichts über die Gegenwart«, sagte Madame
Dragatsnu in scharfem Ton. »Zukunftsvorhersagen. Das steht
auf dem Schild.«
Kit lief rot an. »Könnt Ihr mir etwas über seine Zukunft
sagen?«
»Schsch!«
Es folgte minutenlanges Schweigen, währenddessen die
Hellseherin weiter das Pergament befühlte und Kit anstarrte,
der es schwerfiel, still zu sitzen.
»Wie lange hast du ihn nicht mehr gesehen?« fragte die
Wahrsagerin unerwartet. Die Frage war weniger überraschend
als die Art, in der sie gestellt wurde. Madame Dragatsnu hatte
ihren geschäftsmäßigen Ton abgelegt und ließ
unmißverständlich Mitleid durchklingen.
»Über fünf Jahre.«
»Mhmmm. Ich kann dir nicht besonders viel sagen. Norden,
glaube ich. Ja. Irgendwo im Norden.«
»Er hat Verwandte im Norden, ich glaube, in Solamnia«,
meinte Kit aufgeregt.
»Woanders«, erklärte Madame Dragatsnu. Wieder folgte
langes Schweigen, als sie Gregors grobe Tintenzeichnung des
Wappens mit dem Finger nachfuhr. »Eine Schlacht«, fuhr sie
wie in Trance fort. »Eine große Schlacht, viele Männer – «
»Wird er in Gefahr sein?« Kit konnte sich kaum halten.
»Ja.«
Kitiara sog mit klopfendem Herzen rasch den Atem ein.
Gregor in Gefahr!
»Aber nicht in der Schlacht«, sagte Madame Dragatsnu mit
Nachdruck. »Die Schlacht wird er gewinnen.«
»Wie dann?« drängte Kit.
Madame Dragatsnu machte eine Pause. »Hinterher.«
»Wann?« forderte Kit. »Wann?«
Madame Dragatsnu starrte sie an. »Bald. Sehr bald.«
»Was kann ich tun? Was könnt Ihr mir noch sagen?« Kit
schrie die alte Hexe vor Aufregung fast an.
Die Wahrsagerin blieb ungerührt. Sie ließ sich viel Zeit mit
ihrer Antwort, und bevor sie diese äußerte, faltete sie Gregors
Zeichnung wieder zusammen und händigte sie Kitiara aus.
»Nichts. Die Antwort auf beide Fragen lautet: Nichts.«
Wutentbrannt sprang Kit auf und rannte aus dem Zelt. Sie
flüchtete sich hinter einen abseits stehenden Baum, denn in
ihren Augen standen Tränen. Das war alles so eine blöde
Lügenzukunft. Solche Wahrsager waren auf Jahrmärkten so
allgegenwärtig wie Stechfliegen. Die alte Schrulle hatte kein
Ahnung von Gregors Zukunft. Es war nur ein blindes Raten
gewesen, als Madame
Weitere Kostenlose Bücher