Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
Mutter je etwas Zeit mit Kit allein
verbracht hatte, dann war das so lange her, daß sie sich nicht
mehr daran erinnern konnte.
Die drei stiegen über Hängebrücken und Rampen zwischen
den Vallenholzbäumen auf einen der Wege hinunter, die sich
zwischen den Stämmen der riesigen Bäume zum Südrand von
Solace wanden. Kit, die zu Hause nicht gefrühstückt hatte,
holte Schwarzbrot und Käse aus ihrem Sack und begann, im
Gehen zu essen.
Gilon wurde langsamer, ließ sich neben sie zurückfallen, und
sprach mit gesenkter Stimme, damit Raist ihn nicht hörte.
»Auch wenn ich noch nie da war, müßte es ein Marsch von
einer guten Stunde bis zu dem Ort sein, wo der Zaubermeister
angeblich seine Schule hat. Hält Raist das durch? Sollten wir
auf halber Strecke rasten? Wir wollen schließlich nicht, daß er
allzu erschöpft dort ankommt.«
Kit sah die kleine Gestalt, die pflichtschuldig vor ihnen her
wanderte. Raistlins Augen betrachteten neugierig den Himmel,
die Baumwipfel und den Wegrand und blieben immer wieder
an interessanten Dingen hängen. Er achtete nicht auf Kit und
Gilon, denn er stellte sich vor, er wäre der kühne Leiter ihrer
kleinen Expedition.
»Wenn es so aussieht, als ob er müde wird, können wir ihn
abwechselnd auf dem Rücken tragen«, sagte Kit, um dann
flüsternd hinzuzufügen, »- wäre nicht das erste Mal.« Obwohl
Raistlin seiner Schwester ähnlich sah, hatte er nichts von ihrer
kräftigen Drahtigkeit.
Es war ein warmer Morgen, an dem die Lieder der Vögel,
die aus ihren Winterquartieren zurück waren, von
willkommenem Wind herangetragen wurden. Kit merkte, wie
sich ihre Laune verbesserte, als sie auf die alte Brücke über den
Solacer Bach zuhielten. Bald verließen sie den Weg. Gilon
kannte eine Abkürzung durch den Wald, der sich am
Krystallmirsee entlangzog.
Schon bald traten die drei aus den Schatten der
Vallenholzbäume in weniger bewaldetes Hügelland. Raist
trottete weiterhin vor Kitiara und Gilon her. Es war ihm nicht
anzumerken, ob seine Kräfte nachließen. Er mußte wirklich
sehr aufgeregt sein, dachte Kit bei sich.
Eine Dreiviertelstunde verstrich, ohne daß sie viel geredet
hatten. Zu dritt hintereinander folgten sie einem engen,
steinigen Pfad, der sich durch das hohe gelbe Gras und die
wilden Blumen wand, die den Frühling ankündigten. Kleine
Tierchen huschten vor ihnen über den Pfad, und scheinbar aus
dem Nichts flogen Vögel vom Boden auf. Es war ein schönes
Land, und seine natürliche Harmonie tat den Wanderern gut.
Kit träumte von ihrem Vater vor sich hin, als ein lauter Ruf
von Raist sie in die Gegenwart zurückriß. Raist hüpfte
zwischen Kit und Gilon auf und ab, zog sie am Ärmel und
zeigte nach vorne, während er rief: »Seht doch, seht, das ist sie!
Die Schule!«
Ein Felsen ragte ganz unvermittelt wie eine kleine Insel
mitten im Meer aus der gleichmäßigen Landschaft auf. Eben
hatten sie ihn noch nicht gesehen. Die gleißende Sonne ließ sie
ihre Augen mit der Hand beschatten. Der Felsen bildete einen
steilen Hügel, dessen Ausmaße im hellen Sonnenlicht schlecht
zu erkennen waren. Die Farben waren verblichen, die Seiten
mit Kalkstein bedeckt, die Spitze nicht zu sehen. Kitiara mußte
blinzeln, damit sie glauben konnte, was sie sah.
»Das ist sie! Das ist sie! Seht ihr denn nicht?« forderte
Raistlin sie mit offensichtlicher Ungeduld auf.
Beim Näherkommen erkannten Kit und Gilon, was Raistlin
meinte: die helle Steinfassade eines Eingangs, der so perfekt an
seine Umgebung angepaßt war, daß er für Vorbeigehende fast
unsichtbar war. Durch diese Tarnung sorgte der Zauberer für
das Besondere an seiner Schule und beschützte gleichzeitig
seine Schüler vor möglichen böswilligen Anschlägen durch die
ansässige Bevölkerung, die
– wie die meisten intelligenten
Wesen auf Krynn
– Zauberei mit Skepsis, Mißtrauen oder
offener Feindseligkeit begegneten.
Gilons staunendes Gesicht verriet, wie sehr der
ungewöhnliche Ort den Holzfäller beeindruckte. Raist
hingegen zeigte keinerlei Ehrfurcht. Viel eher sah das Kind
zufrieden aus, als könne es an diesem Ort nichts beeindrucken.
Die Zauberschule war in den Hügel gebaut und durch Felsen
und den kargen Bewuchs darauf getarnt. Zwischen dem Geröll
und den Büschen hindurch konnte man aus der Nähe auch das
Gebäude ausmachen. Kitiara sah hoch und entdeckte etwas, bei
dem sie sich fragte, wie sie es hatte übersehen können. In
regelmäßigen Abständen stiegen Enten und andere
Wasservögel von der Spitze
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