Drachenlanze - Das Mädchen mit dem Schwert
abgucken und nachmachen, der auf dem Markt des
Roten Mondes auftrat.«
Gilons Zuversicht war während seiner kurzen Rede
gewachsen. Am Ende strahlte er richtig vor Vaterstolz.
»Schön!« Mit deutlichem Sarkasmus richtete Morat dieses
Wort an Gilon, wobei er das kleine Kind neben seinem Vater
überhaupt nicht beachtete. »Hat ein paar Taschenspielertricks
nachgemacht, ja? Ein Wunderkind, ja? Nein, das glaub’ ich
nicht. Da muß man doch wohl unterscheiden. Reine
Fingerfertigkeit hat nichts mit echter Magie zu tun. Ein
richtiger Schüler würde das wissen.«
Der Zaubermeister fixierte Raistlins blasses, ovales Gesicht.
Raist erwiderte den Blick ungerührt. Kit bewunderte die
Unerschrockenheit ihres kleinen Bruders.
Raistlin hatte das ganze letzte Jahr dauernd von Zauberei
geredet und häufig Fragen gestellt, auf die Kit keine Antwort
wußte. Er hatte das Thema vor jedermann aufgebracht, selbst
vor seiner Mutter. Kit wußte, daß Raistlin auf die paar
Illusionen stolz war, die er sich hatte abgucken können. Sie
wußte, daß ihn die Möglichkeiten und die Macht stärkerer
Magie faszinierten. Und sie haßte diesen Zauberer, der ihn wie
ein Dummerchen behandelte.
So wie sie einst um das Leben des Neugeborenen gekämpft
hatte, konzentrierte sich Kit jetzt darauf, ihren kleinen Bruder
bei diesem ungleichen Willensduell geistig zu unterstützen. Sie
war sich nicht sicher, aber sie glaubte, einen Hauch von
Neugier in Morats strengem Gesichtsausdruck zu entdecken,
als Raist nicht nachgab, sondern dem durchdringenden Blick
standhielt.
»Selbst wenn das etwas zu sagen hätte«, fuhr Morat wie
nebensächlich fort, »nehme ich Schüler erst frühestens ab acht
an, und sie müssen dazu fähig sein, schwierige und
unverständliche Lektüre leicht zu lesen. Meine Schule ist nicht
für Grundlagen da. Der Junge hier ist zu klein. Zu jung. Er
würde hinter den anderen herhinken, die bereits in vielerlei
Hinsicht junge Männer sind.«
Gilon wollte gerade antworten, als Raistlin seine
Verteidigung selbst übernahm. »Ich kann lesen«, sagte er
einfach. »Ich kann alles lesen.«
Morat wirkte erzürnt. Er stand von seinem Stuhl auf, ging zu
einem nahen Bücherregal und zog dort nach kurzem Überlegen
einen der dickeren, geheimnisvolleren Bände heraus, um ihn
dann Raistlin zu geben, der unter dem Gewicht kurz ins
Taumeln geriet. Der Sechsjährige setzte sich im Schneidersitz
auf den Boden, das Buch auf dem Schoß. Dann sah er fragend
den Zaubermeister an.
»Schlag das dritte Kapitel auf«, befahl Morat, »und fang an,
den vierten Absatz vorzulesen. Richtige Betonung, bitte.«
Mit gewissen Schwierigkeiten öffnete Raistlin das verstaubte
Buch und überflog das lange Inhaltsverzeichnis. Ganz in seine
Aufgabe versunken, fuhr sein Finger durch das Verzeichnis,
suchte die Seitenzahl des Kapitels und schlug es auf. Wieder
nahm er den Finger, um den richtigen Absatz zu finden, den er
dann mit belegter Stimme vorlas.
»Ein Zauberer verwandelt seinen Körper in einen Kanal für
Energieströme und Wirbel von allen Existenzebenen. Durch
die richtigen Gesänge kann er bestimmte Kräfte oder
bestimmte Kombinationen von Kräften anziehen und dann
umformen und so lenken, wie er es wünscht…
Morat starrte Raistlin durchdringend an. Kit kam es so vor,
als wollte der Zaubermeister seine Reaktion verbergen. In
jenen Tagen waren Zauberkundige selten; sie konnte sich
vorstellen, daß er es sich kaum leisten konnte, Schüler
abzuweisen. Doch Magier waren meist sehr eingebildet und
handelten weder logisch noch aus Notwendigkeit. Morats
Bedingungen mußten erfüllt werden. Entschlossen las Raist
weiter.
»Das reicht«, meinte Morat kurz angebunden, riß dem
Jungen das Buch aus den Händen und stellte es ins Regal
zurück.
Raist, der mitten im Satz unterbrochen wurde, sah überrascht
auf. Seine Augen brannten vor Zorn, das sah Kit. Sie wußte,
daß in ihren Augen, die seinen so ähnlich waren, der gleiche
Ausdruck stand. Gilon wartete an der Seite. Seine großen
Hände hingen ungelenk herab. Er schwieg, denn er wußte
nicht, wie er sich verhalten sollte.
Morat lief verärgert im Kreis herum. Er faßte ein paar
Bücher an, als er ein paar Regale streifte. Vor lauter
Konzentration ignorierte er die drei Besucher praktisch völlig,
die gespannt seine nächste Reaktion erwarteten. Kit und Gilon
sahen sich verunsichert an.
Das Sonnenlicht, das von oben hereinfiel, verlieh dem
Zaubermeister eine goldene Aura, als er an Kit vorbeikam. In
dem Moment,
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