Drachenlanze - Die Erben der Stimme
Rand
der Klippe, starrte in den schwarzen Abgrund und sang ein
Klagelied, das Tonsprünge enthielt, die in der Musik der
Menschen und Zwerge unbekannt waren.
»Worauf warten wir eigentlich?« wisperte Flint rauh, doch
Tanis schüttelte den Kopf.
»Ich weiß nicht recht. Vielleicht sollten wir lieber näher ran
gehen.«
Flint nickte zustimmend. Tanis zog sein Messer aus dem
Gürtel, und der Zwerg tat dasselbe, als sie sich einen Weg
durch das Gewirr von Felsen suchten. Die ganze Zeit ertönte
im Hintergrund Gilthanas’ Gesang.
»Ich hab ein komisches Gefühl, Tanis« beschwerte sich Flint
leise. »Es kommt mir irgendwie so vor, als wenn wir nur
darauf warten, daß etwas schief – «
Unter dem Zwerg tat sich die Erde auf.
* * *
Ein Scharren, als ob etwas an Steinen entlang schleift, und
ein erstickter Fluch unterbrachen Flints Worte. Tanis fuhr
herum und verrenkte sich den Kopf.
»Flint!« flüsterte Tanis, so laut er es wagte. Er hockte sich
hin, um ganz sicher außer Sicht von Gilthanas zu sein. »Flint!«
Keine Antwort, nur Gilthanas’ unbeirrter Tenor.
Tanis verfluchte sich. Warum hatte er nicht besser
aufgepaßt? Er schüttelte den Kopf. Aber der Zwerg war direkt
hinter ihm gewesen. Wo konnte er hin sein?
Ein Schatten zwischen den Steinen – oder eher ein dunklerer
Fleck, der schwärzer war als die übrige Dunkelheit – fiel Tanis
auf, und er kroch näher, um sich das anzusehen. Als er näher
kam, wehte ihm ein muffiger Luftschwall entgegen, und er sah,
daß der Fleck gar kein Schatten war. Es war eine Felsspalte,
genau hinter einem Stein.
Tanis war darüber gestiegen, ohne sie auch nur zu bemerken.
Aber Flint mit seinen kurzen Beinen und seinen kürzeren
Schritten…
Oh, Götter, nein, sagte Tanis sich und warf sich auf den
Boden, um in die Spalte zu schauen. »Flint!« flüsterte Tanis in
die Finsternis, aber der Schatten verschluckte seine Worte.
Keine Antwort.
Die Öffnung war gerade groß genug für den Zwerg – wenn
auch knapp. Tanis versuchte verzweifelnd nachzudenken. Der
Zwerg konnte da unten verletzt liegen – oder Schlimmeres.
»Flint!« versuchte er es noch einmal, aber immer noch keine
Antwort. Tanis war mutterseelenallein.
In diesem Augenblick unterbrach Gilthanas hinter ihm sein
Lied mit einem Schrei, und der Halbelf sprang auf.
»Du darfst nicht hier sein!« rief Gilthanas. »Das Kentommen untersagt…«
Tanis sah zu der Spalte zurück, die Flint verschluckt hatte.
Dann sprang er, so schnell er konnte, von Stein zu Stein und
zog dabei sein Schwert.
Eine Gestalt, die auch für Tanis’ empfindliche Augen kaum
zu erkennen war, stand vor Gilthanas. Sie kam näher.
»Wer bist du?« schrie Gilthanas, während er zurückwich.
Der Klippenrand gähnte gefährlich nah bei seinen Füßen.
Die Gestalt kam wortlos näher. Gilthanas sah nach rechts
und links, aber der Fremde versperrte den einzigen Fluchtweg.
»Wer bist du?«
Tanis kam so nah, wie es ihm unter Deckung möglich war,
doch dann sah er, wie die Gestalt sich anscheinend zu einem
Sprung anschickte. Der Halbelf sprang hinter dem Granitblock
hervor und brüllte: »Gilthanas!«
Sein Cousin drehte sich um. Im gleichen Moment machte die
verhüllte Gestalt einen Scheinangriff auf ihn. Mit einem Schrei
stürzte der blonde Jüngling die Klippe hinunter. Ein zweiter
Schrei brach abrupt ab.
Der Mörder rannte in den Wald, und Tanis zögerte, weil er
nicht wußte, ob er ihm folgen sollte oder zu der Stelle laufen
sollte, wo Gilthanas verschwunden war. Aber Tanis war sich
sicher, daß der Abgrund seinen Cousin verschlungen hatte. Der
Halbelf setzte dem Täter in den Wald nach.
Er war erst zehn oder zwanzig Schritte weit gekommen, als
sich das Unterholz um ihn schloß. Es gab keinen Weg – wohin
war dann die Gestalt verschwunden? Tanis verfluchte die
Schlingpflanzen, in denen sich seine Klinge verfing, und spähte
in die Dunkelheit. Er lauschte mit angehaltenem Atem, hörte
aber kein leises Atmen seines Gegners.
Tanis ging zu der Granitplatte zurück, von der sein Cousin
abgestürzt war. »Gilthanas!« schrie er ohne viel Hoffnung in
die Tiefe. Dann noch einmal »Flint!«, nur sicherheitshalber.
Er bekam eine Antwort, aber nicht die erhoffte.
Hinter Tanis stand plötzlich eine Gestalt, die ihn mit
kräftigen Händen ins Kreuz stieß.
Im Fallen hörte der Halbelf die Worte: »Verzeih mir, Tanis.«
Kapitel 14
»In Schatten fiel das alte Reich«
Flint rutschte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit einen
engen Steinschacht hinunter.
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