Drachenlanze - Die Erben der Stimme
zog wieder an der Uniform.
Sein Cousin stöhnte, und Tanis’ Herz klopfte schneller.
Gilthanas war am Leben! Das gab ihm wieder neue Kraft, und
mit einem einmaligen Dankgebet für sein Menschenblut, das
ihn so stark machte, riß der Halbelf Gilthanas vom Rand weg
zu sich hoch. Dann saß er zusammengekauert auf dem
schmalen, drei Fuß breiten und doppelt so langen Vorsprung
aus Kalkstein und Granit und umklammerte seinen Cousin.
Tanis setzte sich etwas um, um eine weniger gefährliche
Lage einzunehmen, doch das half nichts. Vorsichtig schob er
seinen Cousin eng an die Klippenwand, wo der junge Mann
hoffentlich nicht herunterrollen konnte, falls Tanis einschlief
und ihn losließ. Wer den Halbelfen dann selbst vor dem
sicheren Tod bewahren würde, wußte er nicht.
Tanis sah die Klippe hoch, erkannte aber nichts außer den
Sternbildern. Bei Mondschein hätten sie Ritzen für Zehen und
Finger finden und hochklettern können, aber die Nacht war so
schwarz wie in einem Sarg. Weit im Osten konnte Tanis
Fackeln auf dem Sonnenturm sehen. Die Diener im Palast
waren bestimmt noch fleißig dabei, den Turm für den morgigen
Höhepunkt des Kentommen vorzubereiten.
Er sah zu Gilthanas hinüber. Der junge Mann war bewußtlos,
aber er atmete zumindest. Doch selbst wenn der Morgen zeigen
sollte, daß man die Klippe hochklettern konnte, fragte sich
Tanis, wie er Gilthanas die steile Wand hochbekommen sollte.
Bis zur Dämmerung würden sie jedenfalls nirgends
hingehen. Er lehnte sich wieder an die Wand an, wodurch ein
neuer Schwall Geröll über den Rand rutschte, und versuchte,
an etwas anderes zu denken.
Er fragte sich, wo Flint wohl war – und wer den Tod des
Zwergs betrauern würde, wenn auch Tanis verschwunden war.
Es konnte noch viel mehr zu betrauern geben, bis die
verhüllte Gestalt fertig war, dachte Tanis. Er hatte keinen
Zweifel mehr, daß der Mörder auch Laurana und Porthios und
vielleicht sogar die Stimme umbringen wollte. Wieder sah er
zum Turm, einen hellen Finger in der Dunkelheit, wo die
Stimme ihre eigene Wache für Porthios’ Kentommen hielt.
Dann blickte er zur Seite zum Palast. Er hoffte, daß Laurana in
Sicherheit war. Zumindest war die Wache, die bestimmt noch
vor Tanis’ Tür stand, nicht weit von Lauranas Zimmern
entfernt, wenn auch nicht in Sichtweite. Und er wußte, daß
Flint Laurana gesagt hatte, sie solle sich bis zum Morgen
einschließen.
Tanis sah auf den dunklen Fleck rechts vom Turm, wo der
Hain lag, und hoffte, daß der Mörder nicht gerade jetzt auf die
Bäume jenes heiligen Orts zuschlich, um den wehrlosen Erben
anzugreifen.
Als er schließlich sicher war, daß das nächste Opfer des
Mörders Porthios sein würde, fragte sich Tanis, wie er den
Erben warnen konnte, mal angenommen, daß der Halbelf sich
aus seiner
gegenwärtigen Lage befreien konnte. Er würde auf
keinen Fall das Melethka-Nara unterbrechen können; das
würden die drei Fragenden zu verhindern wissen, selbst wenn
er an den Wachen vor dem Raum tief unter dem Palast
vorbeikäme.
Vielleicht gab es einen Weg, Porthios auf seinem Weg
von
jenem Raum zum Turm abzufangen. Der junge Mann ging
diesen Weg traditionell allein, denn es war der dritte Teil des Kentommen, genannt Kentommen-Tala. Es gab zwei
Hauptprobleme: Alle Palastwachen wußten, daß Tanis unter
Arrest stand, und es würde nicht leicht sein, Porthios davon zu
überzeugen, daß der älteste Sohn der Stimme in Gefahr war.
Vielleicht…
Plötzlich schrie in der Dunkelheit über ihm ein Maultier.
Tanis ließ um ein Haar Gilthanas los, denn der Ton ließ
seinen Puls rasen. »Windsbraut!« rief er, und der Vorsprung
bewegte sich etwas. Das Maultier wieherte wieder, diesmal
etwas näher.
Tanis’ Gedanken rasten. Wie konnte er sich das Maultier
zunutze machen? Flint hatte es mit dem langen Seil von der
Leiter festgebunden. Wenn es vielleicht genau am Rand stand
und das Seil herunterhing…
Er schrie wieder, und Windsbraut antwortete. Ein Huf stieß
oben gegen einen Stein und ließ ihn an Tanis vorbeifallen.
Gilthanas regte sich neben Tanis und murmelte etwas über den
Lärm. Einen Augenblick war der Halbelf voller Hoffnung.
Dann entfernte sich das Maultier von der Klippe.
»Windsbraut!« schrie er. Gilthanas stöhnte, versuchte, sich
aufzusetzen, und sackte wieder zusammen. Aber die
Hufschläge von Windsbraut wurden leiser.
Natürlich, dachte Tanis. Sie suchte Flint. Er sackte wieder an
die Wand zurück.
Kapitel 15
Mehr Licht
Wo auch immer er war, Flint wußte, daß er
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