Drachenlanze - Die Stunde der Diebe
Moment, doch dann schüttelte er
den Kopf, als wollte er einen Gedanken verjagen. Er entschied
sich für einen neuen Versuch. »Schau mal, vielleicht ist es ja
wirklich dein Schicksal, in diesem Graben festzusitzen. Aber es
ist auch dein Schicksal, daß ich vorbeigekommen bin, um dich
wieder rauszuholen, weil ich nämlich nicht weiterlaufen und
dich hier sitzenlassen will. Was sagst du dazu?«
Der Kesselflicker kratzte sich am Kinn. »Ich denke mal,
wenn du Bella überreden kannst, sich zu bewegen, dann wäre
das ein ziemlich überzeugendes Argument.«
»Natürlich wäre es das!« rief Tolpan aus. »Also, du gehst
hinter den Wagen und schiebst«, wies er ihn an und zeigte, wie
er es machen sollte. »Hock dich hin und drück mit der Schulter
dagegen, äh – ich weiß immer noch nicht deinen Namen«, fiel
dem Kender plötzlich auf.
»Gäsil Bischof.«
Tolpan streckte wieder seine Hand hin, und diesmal
schüttelte der Kesselflicker sie herzlich. »Hoch erfreut.« Gäsil
nahm seinen Platz hinter dem Wagen ein.
Tolpan schob die Hand in den größten Beutel an seinem
Gürtel und suchte nach dem letzten Klumpen Rübenzucker.
»Das sollte Bella in Bewegung setzen«, sagte er, während er
den Klumpen prüfend hochhielt.
Tolpan stellte sich neben den Kopf der alten Stute. Der
kleine Kender streckte die eine Hand nach ihrem Zügel aus,
während er ihr mit der anderen den Zuckerklumpen unter die
behaarten Nüstern hielt, aus denen weiße Atemwolken
aufstiegen. Das Pferd war wegen des Kampfes immer noch
unruhig und hatte weiße, blutunterlaufene Augen. Doch es
versuchte, mit seinen zwei gelben Vorderzähnen den Würfel zu
ergattern.
»Komm schon, altes Mädchen«, sagte Tolpan freundlich,
zog aber die Hand weg, bevor sie den Zucker erwischen
konnte. »Du hast noch was zu tun, und dann bekommst du
diesen feinen Leckerbissen.«
»Du mußt schreien – sie ist fast taub«, rief Gäsil hinter dem
Karren hervor.
»Wenn ich >Jetzt< rufe, schiebst du!« schrie Tolpan ihm zu.
»Bella ist taub, nicht ich«, erinnerte Gäsil den Kender.
Als Tolpan den Zügel fest in der Hand hatte, hielt er Bella
den Würfel auf der Handfläche dicht vor die Nase, aber außer
Reichweite ihrer gierigen Lippen. Er zählte bis drei. »Jetzt!«
schrie er und zerrte am Zügel. Bella zwinkerte überrascht mit
ihren milchigen Augen und stolperte etwas vorwärts, obwohl
der Matsch sich an ihren Füßen festsaugte. Der Karren hinter
ihr ruckte an und schob sich zum Rand des Grabens, rollte
dann aber zurück, um wieder im Schlamm festzusitzen.
»Wir hatten es fast geschafft!« schrie Tolpan aufgeregt.
»Nächstes Mal schiebst du fester und länger.«
Gäsil blickte verdrießlich an seiner dreckbespritzten Tunika
herunter. Schmutzignasse Flecken trockneten auf seinem
Gesicht an. Kalter Schlamm quoll in seine Stiefel. Wenn er
beim nächsten Mal nicht unter die Räder des Karrens geriet,
konnte er von Glück sagen. »In Ordnung«, antwortete er.
Sie wiederholten den Versuch, wobei Tolpan fester zog und
Gäsil länger schob. Ächzend und stöhnend richtete sich der
Karren auf und rollte mit einem gewaltsamen Ruck aus dem
Schlammloch, wodurch Tolpan zurückflog, gleich nachdem es
Bella gelungen war, ihre Lippen um das vorgehaltene
Zuckerstück zu schließen.
Tolpan fand Gäsil auf dem Bauch in dem Schlammloch
liegen, in dem der Wagen gesteckt hatte. »Oh je, wie ist denn
das passiert?« fragte der Kender, während er Gäsil auf die
Beine half. »Du solltest besser aufpassen. Du siehst ja schlimm
aus.«
Als Antwort öffnete Gäsil die Hintertür seines Karrens und
holte eine saubere Tunika und frische Hosen hervor. Zitternd
zog er die kalten, schmutzigen Sachen aus, nahm die
Wertsachen aus den Taschen und schlüpfte schnell in die
frischen Kleider. »Das ist besser, aber bevor mich irgendwer in
Solace anstellt, muß ich wohl noch baden.«
»Solace?« rief Tolpan aus. »Mensch, da komm ich doch
gerade her! Du mußt wirklich auf den Frühjahrsmarkt gehen –
da kannst du bestimmt eine Menge Geld verdienen.«
»Da wollte ich ja hin«, sagte Gäsil. »Ich hatte mir gute
Geschäfte erhofft, aber ich fürchte, ich habe den größten Teil
des Festes bereits versäumt. Jetzt ist es sicher zu spät, um noch
einen guten Stand zu bekommen.«
»Weißt du, einer meiner besten Freunde hat dort einen
Stand!« prahlte Tolpan. »Na ja, vielleicht nicht gerade mein
bester Freund, aber ich glaube nicht, daß er mich noch haßt.
Wir haben uns kennengelernt, als ich für ihn auf
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