Drachenlanze - Die Stunde der Diebe
zwischen
Sonnenaufgang und dem Beginn der Nachtwache vorsprechen.
»Geh mal aus der Tür raus, du rücksichtsloser Kerl. Kommst
du nun oder gehst du?«
Delbridge trat erschrocken zurück. Er sah sich einem
ärgerlichen Mann mit Hakennase gegenüber, der eine
schneeweiße Schürze trug; offenbar der Wirt.
»Wie? Das heißt… Verzeihung, aber ich habe nur das Ding
da an der Tür gelesen«, stammelte Delbridge.
Der Wirt runzelte die Stirn. »Gut, dann mach sie jetzt zu. Ich
heize nicht für draußen.«
Delbridge riß sich zusammen. »Bitte um Vergebung, edler
Herr.« Er richtete sich auf und strich die ausgebeulte
Vorderseite seiner Samtjacke glatt, doch der Mann war bereits
an seine Arbeit zurückgekehrt.
Delbridge watschelte hinein, bevor die Tür ganz zuging. Der
Raum war warm und gemütlich. Rauch hing in der Luft. Acht
Gäste saßen an verschiedenen Tischen. Die meisten schienen
Arbeiter oder Handwerker zu sein, aber zwei waren offenbar
Soldaten. Im Kamin brannte ein kleines Feuer. Alle acht
unterbrachen ihre Gespräche und betrachteten den
Neuankömmling.
Der Wirt war gerade erst hinter seinen Tresen zurückgekehrt,
als er aufblickte und den Mann, den er gerade im Eingang
getroffen hatte, auch schon vor sich stehen sah. Er sah zur Tür
zurück, um dann Delbridge zu mustern. »Was willst du,
Fremder?«
»Ganz bestimmt nichts«, erwiderte Delbridge, wobei er
Überraschung heuchelte. »Ich wollte nur ein kleines Geschäft
mit Euch besprechen.«
»Bei mir gibt es keine Zimmer umsonst.« Nachdem die
Sache damit erledigt war, kehrte der Wirt an seine Arbeit hinter
dem Tresen zurück.
Delbridge legte die Hand an die Brust. »Um Himmelswillen,
ich habe noch nie etwas umsonst verlangt! Habe ich denn
>umsonst< gesagt? Ich glaube kaum. Nein, was ich vorschlage,
ist ein ganz normales Geschäft. Ich bekomme etwas, und Ihr
bekommt etwas. Wie Ihr so klug erraten habt, möchte ich nur
ein Abendessen und ein Zimmer für die Nacht. Aber Ihr…
bekommt meine Dienste für heute abend.«
Der Wirt rümpfte die Nase. »Und was kannst du? Warte, laß
mich raten. Singen? Tanzen? Geschichten erzählen? Und dafür
soll ich jemanden füttern und unterbringen, der frißt wie ein
Schwein und schnarcht wie eine Belagerungsmaschine.«
Er putzte sich mit dem Saum seiner weißen Schürze die
Nase. »Tut mir leid, Fremder, wir brauchen keine
Unterhaltung. Warum versuchst du’s nicht im Wirtshaus >Zur
Stolpernden Gans< weiter unten an der Straße?«
Einige der anderen Gäste lachten bei den Grobheiten des
Wirts laut los, doch Delbridge machte sich nichts daraus,
Anstatt einzuschnappen, plusterte er sich so groß wie möglich
auf »Ich bin kein gewöhnlicher Künstler. Ich bin ein Orakel.
Ich sehe die Zukunft vorher und sage sie voraus.«
Allgemeines Gekicher und Gepruste ging durch den Raum
Der Wirt beugte sich dicht herüber und sagte: »Ich kann dir
auch die Zukunft vorhersagen, Fremder. Ich sage, wenn du
deinen dreisten, fetten Hintern nicht gleich hier rausschaffst,
dann wirst du rausgeworfen.« Das Gelächter schwoll an, und
Delbridge bemerkte erstmals, daß es einen wirklich
unangenehmen Beiklang hatte.
Armband hin, Armband her, Delbridge wußte, daß es jetzt
Zeit war, den Sprung ins Ungewisse zu wagen. In der
Vergangenheit hatte diese Art Druck, wenn es ums Ganze ging,
immer ausgezeichnet seine Sinne geschärft. Er schloß die
Augen, legte eine Hand an die Stirn und hielt sich mit der
anderen am Tresen fest. Sein Verstand richtete sich auf die
Zukunft aus und suchte nach irgendeiner vagen Voraussage,
die er machen und kurz darauf beweisen konnte.
Er hatte Glück, daß er eine Hand am Tresen hatte, denn sonst
wäre er umgekippt, als die Bilderflut über ihn hereinbrach. So
jedoch taumelte er nur zur Seite und konnte einen Sturz gerade
noch verhindern, indem er sich automatisch am Tresen
festklammerte.
Im Geiste sah Delbridge einen der anderen Gäste, einen
schon etwas kahlen, mittelalten Herrn mit gichtigen Händen,
der einen Riesenbissen gebackene Forelle in den Mund schob.
Augenblicklich begann er zu husten und nach Luft zu
schnappen. Seine Augen quollen hervor, die Hände fuhren zur
Kehle, und seine Zunge schwoll gräßlich an, bis er
Augenblicke später von der Bank auf den Boden fiel. Dort trat
er um sich und wälzte sich noch ein paar Mal herum, bevor er
reglos liegenblieb.
Taumeln war nicht das, was Delbridges Spötter erwartet
hatten. Jetzt beobachteten sie ihn mit echter Neugier und
fragten sich, was dieser
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