Drachenlanze - Finstere Pläne
schwamm im Zickzack, während ihre schwarzen Augen
das Ufer nach Balkom absuchten.
Die größte Schwierigkeit stellten die unberechenbaren
Strömungsänderungen dar. Manchmal dehnte sich der Fluß
plötzlich auf die doppelte Breite aus, wurde seicht und floß
ruhig dahin. Ebenso plötzlich verwandelte sich der Fluß wieder
in ein reißendes Gewässer.
Je höher sie in die Berge kam, desto mehr wichen die hohen
Fichten und Espen kleineren Pinien und Büschen. So weit
flußaufwärts mußte sie großen, scharfkantigen Eisschollen
ausweichen, die vom Ufer abbrachen. Um die Sache noch
weiter zu erschweren, änderte der Fluß zwar immer wieder
seine Breite, doch die Tiefe nahm ständig ab. Selana wußte,
wenn sie Balkoms Versteck nicht bald fand, würde sie nicht
weiterschwimmen können. Als Delphin brauchte sie einfach
ein paar Fuß Wassertiefe.
Als sie in einem schnell fließenden Abschnitt mit der starken
Strömung kämpfte, fiepte Selana plötzlich vor Schmerz, als
ihre linke Flosse an einem scharfen Felsen unter Wasser
entlangratschte. Sie hörte und fühlte, wie die feste Haut riß.
Das eisige Wasser verstärkte den Schmerz, und in Panik schlug
die Meerelfin nur noch um sich. Auf der Stelle sank ihr der
Mut, als ihr klar wurde, daß sie in der starken Strömung mit
nur einer Flosse unmöglich lenken konnte. Schnell stieß sie
sich mit dem Schwanz zum Ufer, wobei sie nur mit der rechten
Flosse steuerte.
Noch bedrückender war die Erkenntnis, daß sie nicht einfach
am Flußufer liegenbleiben konnte, bis ihre Wunde heilte. Sie
brauchte ihre Hände, um sich zu verbinden, und mußte
schlafen, um wieder denken zu können. Wenn sie als Delphin
in dieser Strömung einschlief, würde sie unweigerlich
ertrinken. Da sie wirklich keine Wahl hatte, seufzte Selana
niedergeschlagen und nahm wieder ihre menschenähnliche
Gestalt an.
Das Wasser rann ihr von den Brüsten, während sie so
dastand. Die fingerlange, knochentiefe Wunde unter dem
Ärmel ihrer triefenden Tunika begann sofort, unerträglich weh
zu tun. Ein pulsierender, dicker, roter Blutstrahl spritzte heraus.
Während sie darum kämpfte, bei Besinnung zu bleiben, zog sie
sich mit ihrem heilen Arm die Böschung hoch. Dort
angekommen, lag sie auf dem gefrorenen Boden und zitterte im
eisigen Wind.
Selana konnte es kaum glauben, aber sie war jetzt tatsächlich
schlimmer dran als vorher. Die Temperatur im Fluß war
nahezu konstant geblieben, doch die Luft war in dieser Höhe
viel kälter als das Wasser. Jetzt war sie ernsthaft verletzt,
jedoch noch immer ohne Essen oder Schutz. Ihr wurde klar,
daß sie leicht tot sein konnte, ehe die Sonne wieder aufging.
Ich muß trocken werden, dachte Selana erschöpft, obwohl
ihr von dem Blutverlust schwindelig war. Indem sie ihren
ganzen Willen zusammennahm, nutzte sie den allerletzten
Zauber aus ihrem Gedächtnis: einen Zaubertrick, eigentlich nur
etwas zum Üben, der so unscheinbar war, daß er praktisch
nicht zählte. Wenn man sie jedoch einmal beherrschte, waren
Zaubertricks ungeheuer flexibel, und darauf setzte Selana jetzt.
Es strengte sie sehr an, doch mit Hilfe des Zaubertricks gelang
es ihr, das eisige Wasser aus ihrer dünnen Tunika zu wringen
und sie trockenzublasen. Diese Anstrengung schwächte sie
jedoch noch mehr.
Sie riß einen Streifen Tuch vom zerfetzten Saum ihrer
Tunika ab und verband damit fest die brennende, blutende
Wunde, um die Verletzung zu schließen und die Blutung zu
stoppen. Der zusätzliche Druck der Bandage schmerzte zwar,
gab Selana jedoch gleichzeitig ein beruhigendes Gefühl.
»Du mußt dich ein wenig ausruhen«, murmelte sie laut, weil
sie hoffte, daß der Klang einer Stimme – und wenn es nur ihre
eigene war, sie wachhalten würde. »Such dir eine
windgeschützte Stelle.« Stolpernd taumelte Selana auf einen
auffällig weißen Felsvorsprung am Berghang zu. Bestimmt
konnte sie dort ein Eckchen finden, wo sie sich vor den
gnadenlosen Böen des Bergwinds verstecken konnte.
Schließlich fand sie eine kleine, niedrige Höhle, die gerade
für ihren zierlichen Körper ausreichte. Sie rollte sich – an den
kalten Granit gedrängt
– zusammen. Während sie ihre
zerrissene Tunika fest um sich zog, blinzelte sie mit
verschleierten Augen in die trostlose Landschaft vor sich.
Sie wußte mit erschreckender Klarheit, daß sie sterben
würde… Unter dem heulenden Wind würde sie ins ewige
Vergessen fortgleiten und niemals wieder erwachen – wenn sie
nicht den Klerikern glaubte, die behaupteten,
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