Drachenlord-Saga 02 - Drachenherz
Shei-Luin, als sie in einen bestimmten Gang einbog. Dank sei dem Phönix, daß sie sich um die Herrin des Harems keine Gedanken mehr machen mußte. Die Frau ging ihr jetzt aus dem Weg, wie eine Katze das Wasser mied. Shei-Luin hielt am Beginn des neuen Tunnels einen Augenblick inne.
Der Geheimgang fühlte sich an wie ein Grabmal. Staub lag dick unter ihren schweren Filzstiefeln und dämpfte jeden vorsichtigen Schritt. Das Schweigen umgab sie wie der Kokon einer Seidenraupe. Nach einem scheinbar unendlich langen Weg hatte Shei-Luin ihr Ziel erreicht.
Zitternd legte sie die Finger auf den Riegel. Es war Jahre her, seit sie gewagt hatte, hierherzukommen. Ängstlich senkte sie die Hand wieder; dann griff sie ein weiteres Mal zu und zögerte, bevor sie endlich mit plötzlicher Entschlossenheit den verborgenen Riegel aufschob. Klick.
Ein leises Geräusch, nicht lauter als das Zirpen eines Heimchens, aber so, wie ihr Herz klopfte, hätte es auch ein Donnerschlag sein können. Shei-Luin hielt den Atem an und lauschte.
Nichts. Niemand rief nach den Wachen, niemand rief »Wer ist da?«, nicht einmal das Rascheln von Seidenbrokat war zu hören, niemand hatte sich umgedreht, um zu lauschen. Es gab nur Schweigen, schwer und bedrückend wie die Luft vor einem Gewitter. Shei-Luin stieß einen tiefen, erleichterten Seufzer aus.
Sie schob die Tür auf.
Der Raum war riesig; dunkle Formen ragten darin auf wie Ungeheuer aus einem Alptraum. Shei-Luin hob die winzige Laterne, die sie benutzte, um sich in den Geheimgängen den Weg zu beleuchten, und ging ein paar Schritte. Die nächstgelegenen Schatten zogen sich vor dem Lichtschein zurück und enthüllten einen kunstvoll geschnitzten Sessel und einen Trommelrahmen. Ein genauerer Blick sagte ihr, daß der Sessel aus Elfenbein bestand, das mit Gold und Edelsteinen eingelegt war. Sie fuhr staunend mit den Fingern darüber. Wie hatte sie das vergessen können?
Die Schnitzereien an der Rückenlehne erregten ihre Aufmerksamkeit: eine Frau, die auf dem Mond stand, ein Schwert in der Hand, aber den Kopf bekümmert gesenkt. Shei-Luin verbeugte sich vor dem Bild. Dann ging sie durch das Zimmer und staunte erneut über den Reichtum hier, der selbst von dem in den Gemächern des Kaisers kaum übertroffen wurde. Es war alles noch so, wie sie sich aus jener Nacht erinnerte, als sie und Lura-Sharal dieses Zimmer gefunden hatten. Sie hatten sich so etwas nicht vorstellen können, als sie die langen, vergessenen Geheimgänge nur ein paar Tage zuvor entdeckt hatten.
Shei-Luin schlang die Arme um ihren Oberkörper und schloß die Augen, um besser ins Dunkel lauschen zu können. Erinnerungen kamen auf …
Sie unterhielten sich nur flüsternd in dem dunklen Zimmer, leise und geheimnisvoll, obwohl niemand hier war, der sie hätte hören können.
»Der Kaiser mag dich«, kicherte Shei-Luin, »aber er sieht aus wie ein Pferd.«
»Still – das tut er nicht.« Selbst im Mondlicht konnte Shei-Luin ihre Schwester erröten sehen.
»Was – mag er dich nicht, oder sieht er nicht wie ein Pferd aus? Er mag dich wirklich. Hat er nicht in diesen vergangenen drei Monden nur dich gerufen? Glaubst du wirklich, du bist …?«
Freude brachte das geliebte Gesicht zum Strahlen. »Ja.«
»Dann wird dieser Raum«, Shei-Luin zeigte auf all die Schätze, »dir gehören. Du wirst Kaiserin sein.«
»Ich – Kaiserin? Es hat seit hundert Jahren keine Kaiserin mehr gegeben. Sei nicht …« Lura-Sharal bekam einen Hustenanfall. Sie vergrub ihr Gesicht im Ärmel, um das Geräusch zu dämpfen.
Erschrocken über die Heftigkeit des Anfalls, umarmte Shei-Luin ihre Schwester und stützte sie, als sie zu Boden sank. Endlich ging der Anfall zu Ende; Lura-Sharal ließ erschöpft den Arm sinken.
Es waren Blutflecken auf dem Ärmel.
»Du hast mir doch gesagt, es wäre besser geworden«, schluchzte Shei-Luin, die entsetzt war über die Menge des Blutes. Es war viel mehr als üblich. Viel, viel mehr.
»Das dachte ich auch«, keuchte Lura-Sharal. »Wir müssen zurück.«
Sie waren nie in die kaiserlichen Gemächer zurückgekehrt. Drei Wochen später war Lura-Sharal gestorben. Und nicht einmal die falkenäugige Fürstin Gei hatte Lura-Sharals letztes Geheimnis erfahren.
Tränen tropften unter Shei-Luins geschlossenen Lidern vor, und sie schluchzte leise. Sie biß sich auf die Knöchel gegen die Trauer, die sie verzehrte, aber sie konnte nicht aufhören zu weinen. Heute vor drei Jahren war Lura-Sharal gestorben.
Endlich versiegten
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