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Drachenmonat

Drachenmonat

Titel: Drachenmonat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ake Edwardson
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nicht ihre Schuld, dass wir nicht ständig was Leckeres zu essen im Haus hatten. Wenn ich so redete, klang es, als gäbe ich ihr die Schuld. Einen Unschuldigen beschuldigen, so etwas tat kein Samurai. Ein Samurai übernahm die Verantwortung für das, was er tat und sagte.
    Mutter hatte keine Arbeit, also verdiente sie auch kein Geld, für das wir uns massenhaft gutes Essen kaufen konnten. Als ich noch klein war, hat sie irgendwas gearbeitet, ich glaube, in einer Fabrik, aber seit Vater tot war, hat sie nicht mehr gearbeitet. Wir bekamen Geld vom Sozialamt, das wusste ich, obwohl Mutter nie ein Wort darüber verlor. Ich wünschte, dass sie es mir erzählte, damit ich sagen konnte, dass es mir egal war, dass wir kein Geld hatten und woher wir das bisschen Geld bekamen, das uns zur Verfügung stand. Aber sie sagte nichts, also sagte ich auch nichts.
    »Ich hab nur Spaß gemacht«, sagte ich. »Ich will gar kein Omelett.«
    Mutter war schweigend aufgestanden und zum Kühlschrank gegangen. Der war viel zu groß für uns und die ganze Küche. Er sah aus wie ein plumpes Baumschiff, das vom Kurs abgekommen und in unserer Küche notgelandet war, wo die Besatzung das Raumschiff verlassen hatte.
    »Wir haben Eier!«, rief Mutter, als hätte sie einen neuen Planeten entdeckt. »Und es sind auch noch gekochte Kartoffeln da.« Sie drehte sich um und sah mich an. »Ich kann dir ein Kartoffelomelett machen.«
    »Das ist mein Lieblingsessen«, sagte ich.
     
    Nach dem Essen blieben wir am Tisch sitzen. Ich saß gern so, ohne viel zu reden, während der Abend vorm Fenster immer leiser wurde. Der Körper bereitete sich für die Nacht vor, zusammen mit allem anderen: den Häusern, Straßen, Plätzen, Bäumen, Hunden, Katzen, Autos, Traktoren, Würstchenverkäufem.
    Und Mädchen. Ich dachte an Kerstin. Als ich von ihr weggegangen war, hatte ich das Gefühl gehabt, ich würde sie in Gefahr zurücklassen. Wie bereitete sie sich für die Nacht vor? Sie schien die Abende mit ihrer betrunkenen Mutter gewöhnt zu sein, aber vielleicht hatte sie mir das auch nur vorgespielt. In dieser Beziehung war sie ein besserer Samurai als ich. Sie zeigte nicht, was sie fühlte. Wenn ein Samurai seine Gefühle zeigt, verliert er seine Ehre. Aber eine Ehre war es nicht, so zu wohnen wie sie. Sie würde weder sich selbst noch jemanden anders verraten, wenn es darauf ankam, zu sagen und zu zeigen, ob sie wirklich so leben wollte. Und bald würde sie vielleicht nicht mehr allein sein. Das Jugendamt würde sie zu einer Pflegefamilie schicken. Als ich mir das vorstellte, hatte ich das Gefühl, sie würde ins Gefängnis geschickt oder für alle Zeit in ein Camp.
    »Woran denkst du?«, fragte Mutter.
    »Nichts.«
    »Das sagst du jedes Mal, wenn ich dich frage, Kenny.«
    »Es stimmt aber.«
    »Du hast nicht gerade ausgesehen, als würdest du an nichts denken.«
    »Das ist das Höchste für einen Samurai«, antwortete ich. »Man soll an nichts denken.«
    »Warum?«
    »Weil alles nichts ist.«
    »Das versteh ich nun wirklich nicht.«
    Wie sollte ich ihr das erklären? Ich könnte sagen, dass ein Samurai jeden Tag an den Tod denken soll. Dann ist man bereit, wenn er kommt. Dann ist man ruhig. Der Tod ist nichts, und in dem Moment, wenn er kommt, ist nichts, und wenn man an ihn denkt, denkt man an nichts. Man muss jeden Tag mit dem Tod rechnen. Aber das konnte ich Mutter nicht sagen. Seit Vater vor drei Jahren gestorben war, wollte sie nicht mehr über den Tod sprechen. Vielleicht wäre es gut für sie, wenn sie darüber sprechen würde. Sie dachte ja an den Tod, genau wie ich. Sie dachte an nichts.
    »Ich hab gedacht, dass es spät ist«, sagte ich.
    »Tomm… Kenny, Himmel, ich kann mich einfach nicht daran gewöhnen, Kenny zu sagen. Wie lange wirst du dich Kenny nennen, Tommy?«
    »Kenny.«
    »Was?«
    »Ich heiße Kenny.«
    »Das sag ich doch. Ich sag doch Kenny. Ich möchte wissen, wie lange du so heißt?«
    »Was wie lange? Ich heiße jetzt, wie ich heiße. Ich werde immer Kenny heißen.«
    »Aber in deiner Geburtsurkunde steht Tommy. So ohne Weiteres kann man das nicht ändern.«
    »Das ist mir egal.«
    »Aber wenn du größer wirst? Zum Beispiel, wenn du zur Realschule gehst? Oder wenn du einen Job bekommst? Willst du dich dann auch immer noch Kenny nennen?«
    »Warum nicht?«
    Sie antwortete nicht.
    »Die Leute nennen sich doch alles Mögliche. Elvis Presley nennt sich zum Beispiel Elvis Presley, obwohl er Stig Johansson heißt.«
    »Was? Elvis Presley heißt

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