Drachenmonat
gewesen?«
»Das Jugendamt? Was meinst du?«
»Die kümmern sich um Kinder, um die sich Mutter oder Vater nicht kümmern können.«
»Hier ist niemand gewesen«, sagte Kerstin. »Wo ist dann dein Bruder?«
»Er ist bei Großmutter.«
»Ist das wahr?«
»Warum sollte das nicht wahr sein?«
Ja, warum nicht? Warum glaubte ich, dass Kerstin mir nicht die Wahrheit erzählen wollte? Vielleicht aus demselben Grund, aus dem ich nicht erzählen wollte, wie es bei mir zu Hause war, wenn mich jemand danach fragte.
»Wohnt deine Großmutter in der Stadt?«
»Nein.«
»Wie weit entfernt?«
»Ziemlich weit.«
»Wann ist Kjell zu ihr gefahren?«
»Letzte Woche.«
»Letzte Woche? Warum hast du nichts gesagt?«
Sie antwortete nicht, das brauchte sie auch nicht.
Ihre Mutter schnarchte wieder, ein lauter Schnarcher, der klang, als wäre sie dabei, ihre Zunge zu verschlucken.
»Wer hat entschieden, dass dein Bruder zu eurer Großmutter fährt?«
»Ich will jetzt keine Fragen mehr beantworten, Kenny.« Sie strich sich über die Stirn. »Ich bin so müde.«
»Willst du mit zu mir kommen?«
»Zu dir?« Kerstin zeigte auf die Schnarchende. »Ich kann sie doch nicht… alleinlassen.«
»Warum nicht? Sie geht doch einfach ins Bett, hast du gesagt. Sie wird morgen gar nicht merken, ob du da bist, oder? Bestimmt bist du schon in der Schule, wenn sie wach wird.«
Kerstin antwortete nicht.
»Dann bleibe ich hier«, sagte ich.
»Das kannst du nicht, Kenny.«
Nein, das konnte ich eigentlich nicht. Ich war nun schon so lange weg, dass Mutter sich bestimmt Sorgen machte. Inzwischen hatte sie sich mehrere Elvis-Songs angehört und begann auf die Uhr zu gucken.
Auf eine seltsam ungerechte Weise war man abhängig von den Erwachsenen. Natürlich wollte ich groß werden, um diese Ungerechtigkeit nicht länger ertragen zu müssen, aber gleichzeitig wollte ich nicht groß werden, ein anderer werden als der, der ich jetzt war. Ich würde nicht mehr Kenny sein, ich würde ein anderer sein, den ich vielleicht gar nicht kennenlernen wollte. Allein die Vorstellung, ich könnte ein Erwachsener werden, der Verantwortung für die Kleinen übernahm und sie dann im Stich Heß? Nein. So würde ich nie werden. Kerstin würde nie so werden. Wir würden nichts vergessen.
Aber das reichte nicht. Wir mussten mehr tun, als nur daran zu denken. Kerstin sagte etwas, das ich nicht verstand. »Was hast du gesagt?«
»Das Jugendamt ist hier gewesen.«
»Haben sie deinen Bruder weggeschickt?«
»Nein, er ist bei Großmutter. Sie hat ihn abgeholt.«
»Warum hat sie dich nicht mitgenommen?«
»Ich wollte nicht. Ich will nicht weg.«
»Warum hast du mir nichts erzählt?«
»Ich bin ja nicht gefahren, oder?«
»Was wollten die vom Jugendamt?«
»Ich weiß nicht, was sie entscheiden werden. Sie waren auch letzte Woche hier.«
»In der letzten Woche ist viel passiert.«
»Nachdem sie hier waren, hat Mama noch mehr getrunken.«
»Sie werden dich wegschicken«, sagte ich. Sie schüttelte den Kopf. »Doch, das werden sie versuchen.« Aber hier wird niemand von irgendjemandem weggeschickt werden, dachte ich.
5
Als ich nach Hause kam, saß Mutter in der Küche und wartete auf mich. Wenn sie morgens wie ein normaler Mensch aufstehen würde, wäre sie abends müde, und es würde mir erspart bleiben, mit ihr reden zu müssen, wenn ich lieber schlafen gehen wollte. Aber manchmal wirtschaftete sie noch Stunden nach Mitternacht herum. Manchmal schien sie mit jemandem zu reden, obwohl sie allein war.
Jetzt stand ich in der Küche. Bestimmt hatte sie das Fenster zum Lüften geöffnet und wieder geschlossen, aber es roch immer noch nach Rauch, Herbstluft und Rauch. Sie hatte wieder angefangen zu rauchen und bildete sich ein, ich würde es nicht merken.
»Wo bist du gewesen, Kenny? Ich hab mir Sorgen gemacht.«
Sie fuchtelte mit den Armen, als wollte sie damit zeigen, was Sorgen sind.
»Du darfst dich nicht so spät draußen herumtreiben«, fuhr sie fort.
»Es ist nicht spät.«
»Es ist dunkel«, sagte sie und schaute zum Fenster. »Dunkel ist es schon seit sechs Uhr«, sagte ich. »Hast du Hunger?«
»Ja.«
»Was möchtest du haben?«
»Cocktailwürstchen mit Pilzomelett.«
»Wir haben keine Pilze«, sagte sie. »Haben wir denn Cocktailwürstchen?«
»Nein…«
»Oder Eier?«
Sie schüttelte den Kopf und sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Es war gemein von mir, von Würstchen und Pilzen zu reden. Schließlich war es
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