Drachenmonat
die Bananen und die Schokolade klauen sollen«, sagte ich. »Als ich bezahlen wollte, ist der Kerl misstrauisch geworden. Aber ich hätte sie trotzdem mitnehmen sollen.«
»Dann würden sie auch noch wegen Diebstahl nach uns fahnden«, sagte Kerstin, »und wir würden in einer Jugendstrafanstalt landen.«
»Dazu sind wir noch zu jung«, sagte ich. »Aber sie würden uns vermutlich in eine Pflegefamilie stecken, bis wir alt genug sind, um in der Jugendstrafanstalt eingelocht zu werden.«
»Ich hab was gehört!« Kerstin blieb stehen.
Ich hatte es auch gehört.
Es war ein Brausen, das wie Autoverkehr klang.
Wir näherten uns einer Landstraße.
»Vielleicht wartet die Polizei schon auf uns, wenn wir den Wald verlassen«, sagte Kerstin.
»Die wissen doch nicht, an welcher Stelle wir rauskommen.«
»Bestimmt haben sie wieder unsere Personenbeschreibung im Radio durchgegeben«, sagte Kerstin. »Und die Leute in den Autos haben sie gehört.«
»Noch sind wir nicht aus dem Wald raus«, sagte ich.
Wir gingen weiter. Der Wald lichtete sich, und das Brausen des Verkehrs nahm zu.
Und dann waren die Bäume weg. Wir standen am Rand eines anderen Hügels, als wären wir über eine Hügelkette gegangen. Wir mussten mehr als zehn Kilometer durch den Wald gelaufen sein.
Unten auf der Landstraße fuhren Autos vorbei. Es war eine große Überlandstraße. Ich hatte keine Ahnung, wohin sie führte, weder nach links noch nach rechts. Nachdem wir so lange durch den Wald gegangen waren, hatte ich das Gefühl, links könnte genauso gut rechts sein. Vielleicht war ich verwirrt, weil wir schon so lange nichts gegessen oder getrunken hatten.
Kerstin setzte sich ins Gras, und ich setzte mich neben sie.
»Als Erstes brauchen wir was zu essen«, sagte ich.
»Zu trinken«, sagte sie. »Ich habe Durst.«
Leider gab es am Straßenrand keinen Stand, wo wir uns etwas kaufen konnten. Wenn ich einen gesehen hätte, dann wäre das eine Fata Morgana wie in der Wüste gewesen.
»Wir müssen trampen«, sagte ich.
Auf dieser breiten Straße fuhren die Autos gefährlich schnell. Aber ich wusste, dass es von außen gefährlicher aussah, als wenn man selber im Auto saß. Dann hatte man manchmal das Gefühl, als bewegte es sich gar nicht, weil alle anderen Autos genauso schnell fuhren. Doch das Gefühl war vielleicht auch gefährlich. Ich war noch nicht häufig Auto gefahren. Zuletzt in Kristers Buick. Wie schön, wenn er in diesem Augenblick vorbeigekommen wäre. Krister fuhr überall herum. Vielleicht verkaufte er auch in diesem Teil des Landes Nachschlagewerke. Vielleicht waren wir jetzt in einem anderen Bezirk. Wir waren so lange gegangen, dass wir das Gefühl hatten, in einem anderen Land zu sein. Die Grenze verlief genau auf der Hügelkette. Grenzposten hatte ich allerdings keine gesehen.
In einiger Entfernung entdeckte ich eine Person, die sich unten auf der Straße von rechts näherte.
»Da unten geht jemand«, sagte Kerstin.
»Ich sehe es.«
Jetzt kam die Person näher. Es war ein Er. Ich erkannte ihn. Es war der Japaner.
19
Den Japaner hatte ich im vergangenen Sommer gesehen, den ersten echten Japaner meines Lebens. Janne und ich waren aus dem Camp in die Stadt abgehauen, und der Japaner hatte am Stadtrand gestanden und auf eine Mitfahrgelegenheit gewartet. Ich wäre gern zu ihm hinübergegangen, um mit ihm zu reden, aber ich hatte mich nicht getraut. Janne und ich schlossen eine Wette ab, ob er noch dort stehen würde, wenn wir zurückkamen. Aber wir waren nicht zurückgekommen, sondern mit den Mohikanern über den Fluss zu dem See gepaddelt, an dem das Camp lag.
»Der Japaner ist wieder da!«, sagte ich. »Da unten geht er.«
Ich hatte Kerstin nicht von dem Japaner erzählt, das holte ich jetzt nach.
»Ist das wirklich ein Japaner?« Sie blinzelte.
»Erkennst du das nicht?«
»Nein.«
Jetzt war er direkt vor uns. Vom Hügel zur Straße hinunter waren es fünfzig Meter. Der Japaner ging weiter.
»Warum bleibt er nicht stehen und versucht ein Auto anzuhalten?«, sagte ich.
»Das ist wahrscheinlich sinnlos«, sagte Kerstin. »Die Autos fahren zu schnell.«
»Vielleicht hält niemand an«, sagte ich. »Darum haben Janne und ich gewettet. Ob einer anhalten würde.«
»Worauf hast du gewettet?«
»Ich hab’s vergessen.«
»Er hat lange Haare«, sagte Kerstin.
Seine schwarzen Haare hingen glatt herunter. Samurais hatten auch lange Haare, aber sie trugen sie zu einem Knoten geschlungen auf dem Kopf.
Plötzlich
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