Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
Stelle
Kinder, die zum Flug begabt.
Was ist wirklich, was ein Traum,
denk nicht nach, stell keine Fragen.
Ein Gedanke in dir wohnt,
deine Antwort gibt dir Recht.
Der beherrscht die Welt des Tages,
jener ganz allein die Nacht,
aber vom geheimen Feuer
einer nur den Schlüssel hat.
Viktor riss sich von der Wand los. Seine Beine zitterten leicht, aber fürs Erste schien der Unsinn aus seinem Kopf verschwunden. Als spulte er ein automatisches Programm ab, öffnete er die Hausapotheke, die im Flur hing, und entnahm ihr eine Plastiktasche mit Mullbinden und Pflaster.
Wenn das so weiterging, müsste er bald selbst in Behandlung …
Das Mädchen lag immer noch auf dem Sofa und blickte ihm entgegen. Viktor versuchte sich auf die einfachen Handgriffe zu konzentrieren, er riss ein Stück Mull ab, befeuchtete es mit Wasserstoffperoxid und tupfte vorsichtig über die Schnittwunde. Das Wasserstoffperoxid zischte auf der Wunde und fraß sich in die angetrocknete Blutkruste. Das Mädchen runzelte die Stirn.
»Also, woher kennst du meinen Namen?«, wiederholte Viktor seine Frage, während er eine Packung mit Leukoplast aufriss. Es war immer gut, den Kranken während der Behandlung mit irgendwelchem Gerede abzulenken. Davon abgesehen wollte er es wirklich wissen.
»Ich kenne ihn eben«, ließ sie sich zu einer Antwort herab. Nur leider, ohne irgendetwas zu erklären.
Um die Wunde abzudecken, benötigte er nur drei Stück Pflaster. Nein, sie hatte wirklich Glück gehabt. Eine rein oberflächliche Schnittwunde, abgerutscht vermutlich. Aber woher kam das viele Blut?
»Sie haben mit einer Rasierklinge zugestochen, oder?«, fragte er.
»Nein, mit einem Säbel.«
Ihre Augen blickten ernst. Aber Viktor hatte gelernt, Augen nicht zu vertrauen.
»Ich weiß nicht, wie du heißt«, fing er an, Ärger stieg in ihm auf. »Ich weiß nicht einmal, wo du dich so prächtig aufgeschürft hast …«
»Tel.«
»Was?«
»So heiße ich – Tel.«
Plötzlich begriff Viktor.
Solche Mädchen und Jungen hatte er schon im Fernsehen gesehen.
Schlampig gekleidet waren sie, trugen die Haare mit Bändern zusammengefasst, und auf dem Rücken hatten sie Holz- oder Metallschwerter. Sie gaben sich genau solche klangvollen Namen und trafen sich irgendwo im Wald, um Rollenspiele zu veranstalten.
Die hübsche Journalistin hatte überschwänglich erklärt, dass dies eine neue Form des Zeitvertreibs unter Jugendlichen sei, bei der sie alternative Formen des Verhaltens erlernen und die Geschichte vergangener Zivilisationen erfahren könnten. Beim Anblick dieser Jugendlichen war Viktor ein wenig beklommen zumute gewesen. Erstens glaubte er an diese vergangenen Zivilisationen der Gnome und Elfen ebenso wenig wie an das Reich des unsterblichen Koschtschej oder die Hexe Babajaga. 1 Zweitens hatte er das Gefühl, dass die Augen dieser jungen Leute, die ihre Jugend dem Studium der Elfensprache widmeten, allzu fanatisch leuchteten.
Wahrscheinlich spielte auch das Mädchen hier, diese Tel, solche Spiele. Streifte in der Gesellschaft ihrer Elfenkameradinnen umher, malte sich die Nägel mit goldfarbenem Lack an, übte Fechten mit rostigen Eisenstangen. Na, und jetzt hatte sie ein kleines Souvenir fürs Leben abbekommen.
Wunderbare Erklärung. Was Besseres hätte er sich nicht ausdenken können. Und zu dieser späten Stunde hatte er nicht die Absicht, einfache, verständliche Erklärungen in Zweifel zu ziehen.
Aber woher kannte sie seinen Namen?
Vielleicht hatte sie ihn im Krankenhaus gesehen. Gelegentlich hatte er in der Kinderabteilung Bereitschaftsdienst. Die Göre hatte sich sein Gesicht und den Namen gemerkt, und als sie nun zufällig in seiner Wohnung gelandet war,
hatte sie es als selbstverständlich betrachtet … Zum Teufel mit diesen lächerlichen Vermutungen …
»Tel«, sagte Viktor, so sanft er nur konnte. »Ich muss jetzt deine Eltern anrufen … hm …«
Er berührte das Telefon, das inzwischen nicht mehr rauchte, aber …
»Tel, ich gehe eben runter, da ist ein öffentlicher Fernsprecher«, sagte Viktor.
Das Mädchen lächelte.
»Du musst nirgendwo anrufen.«
»Haben deine Eltern kein Telefon?«, folgerte Viktor.
Es war schon nach Mitternacht. Eine schöne Bescherung!
»Steh auf«, sagte er schließlich. »Dir ist nichts Schlimmes passiert. Ich bringe dich mit dem Taxi nach Hause.«
Tel schien nur auf seine Erlaubnis gewartet zu haben. Langsam setzte sie sich auf, zog den Pulli zurecht und faltete die Hände auf den Knien. Ein
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