Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
ordentliches, gut erzogenes Mädchen. Kaum zu glauben, dass sie solche Flausen im Kopf hatte.
»Mit dem Taxi kommt man nicht zu mir, Viktor«, teilte das Mädchen ihm mit. Ganz sachlich, ohne Ironie und auch nicht provokativ. Ganz im Gegenteil, eher so, als fände sie seinen Vorschlag schmeichelhaft.
»Und was machen wir dann?«
Insgeheim hoffte Viktor, dass sie aufstehen und fortgehen würde. Allein. Zu Fuß.
Nein, natürlich nicht, es wäre wohl kaum richtig, ein Kind, noch dazu ein verletztes, in die Nacht hinauszuschicken.
Aber tief in seinem Inneren machte sich eine kalte Vorahnung breit, die ihm sagte: Wenn dieses Mädchen jetzt
nicht verschwindet, aus seiner Wohnung und aus seinem Leben, dann wird es schlimm werden, ganz schlimm.
Warum waren diese verdammten Vorahnungen nur immer so einseitig? Und was würde geschehen, wenn er das Mädchen jetzt rauswarf? Wäre das etwa besser?
Tel blickte ihm in die Augen.
»Wir gehen jetzt schlafen«, sagte sie mit bestechender Schlichtheit.
Sie dachte einen Moment lang nach, dann fügte sie hinzu: »Ich bin klein, wir passen zu zweit auf das Schlafsofa. Und morgen bringst du mich nach Hause.«
Endlich begriff Viktor alles.
»Ja«, sagte er, fasste das Mädchen um die Schulter, hob es hoch und trug es wortlos in den Flur. Sogleich waren ihm eine Reihe Unannehmlichkeiten in den Sinn gekommen, die sich hinter ihrem Vorschlag verbergen konnten. Solche, von denen er in der Zeitung gelesen hatte, und andere, die ihm seine eigene Fantasie spontan unterbreitete. Noch eher harmlos war die Vorstellung, am nächsten Morgen in einer ausgeräumten Wohnung aufzuwachen … denn was gab es bei ihm schon zu klauen? Weiter fielen ihm unrasierte Mitbürger kaukasischer Herkunft, eingeschaltete Bügeleisen, Verurteilungen wegen Vergewaltigung oder Verführung Minderjähriger und ähnliche Leckerbissen für die Boulevardpresse ein.
»Viktor!« Das Mädchen befreite sich aus seinen Armen und drückte sich an die Wand unterhalb des vermaledeiten Sicherungskastens.
»Verschwinde von hier, aber dalli!« Viktor bemühte sich, seine Stimme böse und entschieden klingen zu lassen, aber es gelang ihm nicht. Dieses Mädchen wirkte nicht wie eine, die schmutzige Dinger drehte! Ganz und gar nicht! Ja, es sah
fast so aus, als hätte sie tatsächlich nichts anderes gemeint, als zu zweit auf seinem Bett zu schlafen. »Verschwinde!«
»Warum?«, fragte sie völlig verwirrt.
»Warum?« Viktor deutete auf den Boden. Sicher, die große Lache war draußen, aber auch hier waren einige braune Flecken. »Das ist nicht dein Blut! Sonst würdest du hier nicht rumspringen, Tel … oder wie du wirklich heißt!«
»Es ist nicht nur meins«, stimmte sie, ohne zu zögern, zu. »Ich hab mich gewehrt.«
Die Geschichte wurde jeden Augenblick noch komplizierter! Lag vielleicht unten auf der Treppe eine Leiche?
»Er ist abgehauen. Ich wollte ihm nicht nach. Ich bin zu dir gekommen.«
Die Selbstverständlichkeit, mit der sie nicht gestellte Fragen beantwortete, beunruhigte ihn.
»Wieso zu mir?«
Viktor rechnete nicht mehr mit einer normalen Antwort. Vielleicht erhielt er deswegen auch keine.
»Weil unsere Vorfahren sich kannten.«
O Gott, schon dieser Jargon! Vorfahren! Und doch erklärte das einiges. Viktor ging im Geiste sämtliche Freundinnen seiner Mutter und deren Töchter durch, die er nur selten gesehen hatte. Dunkel erinnerte er sich an ein paar rothaarige Mädchen. Er musste Mama anrufen. Sie fragen, welche von den Enkelinnen ihrer Freundinnen sich lieber mit selbst gemachten Schwertern als mit Puppen und Computerspielen die Zeit vertrieben … Ja, natürlich. Anrufen.
»Gehen wir ins Zimmer«, sagte Viktor müde. »In Ordnung. Schon gut. Ich bin ein Idiot. Ein vertrauensseliger Trottel, der keinerlei Erklärungen und Beweise verlangt. Aber sag mir eins – woher kennen sich unsere Vorfahren?«
Das Mädchen runzelte beleidigt die Stirn. »Sie haben zusammen gekämpft.«
»Was?«
Einige Sekunden war Viktor damit beschäftigt, sich Mama oder Papa im Krieg vorzustellen. In einem jener Kriege, die nicht erklärt worden waren. Die kleine, pummelige Mathematiklehrerin im Dschungel von Vietnam, oder sein kurzsichtiger Vater mit den daumendicken Brillengläsern in den Bergen Afghanistans … Alle Achtung, was für ein Märchen!
»Hör mal, Tel. Meine Eltern haben nicht gekämpft. Niemals und nirgendwo. Glaub mir. Und die beiden wurden auch nicht mit Fallschirmen hinter den Linien des Feindes
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