Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
abgeworfen.«
»Ich meine nicht deine Eltern«, widersprach Tel ruhig. »Dein Großvater und deine Großmutter haben gekämpft …«
Viktor blieb die Antwort im Hals stecken. Die Eltern seines Vaters hatte er nie kennengelernt. Sie waren früh gestorben, und außerdem erinnerte man sich bei ihm zu Hause nicht gerne an sie. Anscheinend gab es da etwas in ihrem Leben, auf das man nicht gerade stolz sein konnte. Großmutter Vera dagegen …
Als Kind verbrachte er jeden Sommer bei ihr. Damals wie heute lebte Großmutter Vera in einem abgelegenen Dorf im Kreis Rjasan. Es gibt eine Sorte Menschen, die das Stadtleben einfach nicht erträgt. Selbst in die Kleinstadt, in der Mama lebte, reiste Großmutter Vera nur selten und höchst ungern. Bei ihm in Moskau war sie noch nie gewesen, obwohl ihre Gesundheit – toi toi toi – es ohne weiteres zugelassen hätte.
Großmutter Vera war groß und aufrecht und ohne eine Spur von alterstypischer Gebrechlichkeit. Ihre bernsteinfarbenen
Augen blickten stets scharf in die Welt, und ihr Haar war trotz ihrer achtzig Jahre pechschwarz. Außerdem hatte sie das, was man gemeinhin als Klasse bezeichnete. Im Krieg, dem echten und dem einzigen, auf den man stolz sein durfte, war sie nur wenig älter gewesen als Tel. Aber – sie hatte gekämpft. In einer Partisanendivision.
Der kleine Viktor hatte sie seinerzeit, wie das so üblich war, mit Fragen gelöchert: »Erzähl, wie du die Faschisten getötet hast!« Großmutter Vera hatte es ihm erzählt. Und zwar so detailliert, dass Mama sich, nachdem sie von ihrem begeisterten Sohn in die Einzelheiten eingeweiht worden war, zum ersten und einzigen Mal mit Großmutter Vera stritt. Die Decke über den Kopf gezogen, lauschte Viktor erschrocken dem heftigen Wortwechsel aus dem Nebenzimmer. »Mama, bist du verrückt geworden!«, schrie seine Mutter die Großmutter an. »Den Hals also von der richtigen Seite durchschneiden, ja? Sonst spritzt einem das Blut entgegen … Was erzählst du dem Kind? Es kriegt doch ein Trauma davon, ein psychisches Trauma!« Und dann hörte er Großmutters Stimme, ruhig, eisig … wie Tels … ja, wie Tels! Sie sagte etwas über das Angesicht des Todes und den Wert des Lebens. Und dass Viktor nicht schlafe, sondern alles mithöre und dass er viel eher von Mamas hysterischem Geschrei ein Trauma abbekommen würde.
Großmutter wusste immer, wann er schlief und wann er nur so tat. Und sie nannte ihn immer Viktor. Niemals rief sie ihn Vitenek oder Vitjuschek oder mit sonst einem dieser Namen, die jedem Jungen peinlich sind. Viktor konnte Mama oder Papa anschwindeln, aber bei der Großmutter versuchte er es gar nicht erst.
»Glaubst du mir?«, fragte Tel plötzlich.
Viktor zuckte mit den Schultern und antwortete ehrlich: »Nein.«
Im Sicherungskasten knackte es, und das Licht ging aus.
»Kommt das öfter vor?«, fragte das Mädchen aus der Dunkelheit mit lebhaftem Interesse.
»Geh mal vom Sicherungskasten weg.« Viktor fasste sie an der Hand und zog sie ins Zimmer. »Warte hier.«
Er schaffte es in die Küche, wobei er ständig irgendwo anstieß, dort suchte er tastend nach einer Kerze. Schluss aus, für heute hatte er genug vom Kampf mit den Sicherungen. Morgen würde er den Elektriker rufen.
Es dauerte eine Weile, bis er eine Kerze fand. Warum hatte er es in fünf Jahren nicht gelernt, sich in der eigenen Wohnung zurechtzufinden? Kaum ging das Licht aus, schon hatte er das Gefühl, als ob die Wände zusammenrückten und die Decke von oben runterkam und ihn erdrückte. Er hatte doch nie in einer weitläufigen, luxuriösen Wohnung gewohnt …
Viktor entzündete die Kerze und trug sie ins Zimmer, wobei er die züngelnde Flamme mit der Hand abschirmte. Tel stand nicht mehr im Flur, sondern saß auf der Liege und blätterte in einer Ausgabe des Schützen .
Die Zeitschrift hatte vorher auf dem Bücherregal gelegen.
»Sehr witzig«, sagte Viktor und stellte die Kerze auf den Tisch. »Also, wir machen es so: Es geht auf zwei Uhr zu, deshalb bleibst du für heute hier.«
»Danke«, antwortete das Mädchen höflich.
»Du legst dich auf das Schlafsofa, und ich schlafe auf dem Fußboden. Morgen bring ich dich nach Hause.«
»Versprichst du es?« Tels Stimme klang fordernd. Als ob Viktor sie mit einer List in diese Wohnung gelockt hätte und sie nun nicht gehen ließe. Er musste ein paarmal tief
durchatmen, ehe er antwortete … übrigens hatte er dabei das Gefühl, eine riesige Dummheit zu begehen.
»Ja, ich
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