Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow

Titel: Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sergej Lukianenko
Vom Netzwerk:
Reisebriefe vorzeigen! Na los! Na was denn, keiner da? Dann wird die Abgabe per Strafe eingezogen! Auf der Streckbank wird dir deine Vergesslichkeit schon vergehen!« Wenn Ritor die Psychologie seines Gegners von der Anderen Seite richtig einschätzte – umso mehr, als der in jenem bestimmten Land gelebt hatte -, so würde der Drachentöter nicht stillhalten. Er würde unbedingt reagieren. Die Abteilfenster waren geöffnet, auf dem Bahnsteig wogte eine Menschenmenge, in der man sich leicht verlieren konnte …
    Und das ist der Moment, in dem wir handeln, dachte Ritor.
    Im Waggon kreischte jemand plötzlich auf. Und im selben Augenblick brach eine Welle gebündelten Hasses über Ritor herein. Lodernd und unerträglich, eine Welle, die nur mit dem Blut des Feindes zu löschen war. Keinem einzelnen Wesen, nicht einmal dem Drachentöter, wäre es möglich gewesen, so heftig zu hassen.
    Zu dem Kreischen einer Frau gesellte sich ein Chor zorniger Männerstimmen. Fensterscheiben klirrten, und dann begann etwas Unvorstellbares im Waggon. Als ob sich Dutzende wild gewordener Kater im Kampf ineinander verschlungen hätten; in den dunklen Öffnungen der Fenster wand sich ein Wesen – vielarmig, vielbeinig, ein Wesen mit
dem Namen »Menge«; die zweite Hasswelle war einfach vernichtend, als ob eine brennende Fackel in ein Fass Erdöl geworfen würde. Ritor wusste, dass Erik und Kevin in der engen, stickigen Hölle des hölzernen Waggons bereits über Leichen gingen, dass sie alle auf ihrem Weg töteten, nur um nicht selbst getötet zu werden; und auch ihre Jungen, diese schweigsamen, folgsamen, ordentlichen Jungen würden eifrig alle Verletzten und Gestürzten erschlagen, denn selbst die tödlich Verwundeten versuchten noch irgendwie an ihre Angreifer heranzukommen …
    Eine Fensterscheibe nach der anderen zersplitterte; Schaufelgriffe und Axtstiele blitzten auf; ein blutbedeckter menschlicher Körper stürzte über den Rand einer Fensteröffnung, geradewegs einem vor Schreck gelähmten Händler vor die Füße; dahinter warf jemand einen in eine Decke gewickelten, schreienden Säugling in eine Bauchlade mit Äpfeln; aus dem Waggon drang jetzt ein so schreckliches Stöhnen und Heulen, dass der ganze Bahnhof vor Grauen buchstäblich erstarrte; Ritor bemerkte Kirbi, wie er mit wehendem Hemd und vor Angst verzerrtem Gesicht mit drei weiteren Wächtergnomen im Schlepptau über den Bahnsteig rannte.
    Aus dem Fenster flog ein Mann, dem Aussehen nach ein einfacher Siedler. In der Hand hielt er einen kurzen Spaten. Seine linke Gesichtshälfte war blutüberströmt.
    Der Mann war tot.
    Ritor fasste sich trotz aller Selbstbeherrschung an den Kopf. Er hatte schon verstanden, was da vor sich ging, aber er fürchtete sich davor, es zu glauben.
    Die Menschen fielen jetzt einer nach dem anderen aus dem Fenster, wie Regentropfen: Männer, Frauen, Kinder. Manche sprangen auf, andere blieben reglos liegen; einige
waren schon tot, andere starben auf dem Bahnsteig; Kinder schluchzten verzweifelt. Immer wieder schossen Blutfontänen durch die Fensteröffnungen heraus, immer wieder wurde ein Menschenleben jäh beendet. Ritor sah, wie in einem Fenster ein schmaler Mädchenrücken in einer Pelzjacke zuckte, kippte und auf den Bahnsteig stürzte. Es war ein ganz junges Mädchen, und aus seiner Schläfe ragte ein schwarzer Pfeil.
    Die Jungen »zur Hand« hatten sich an die Arbeit gemacht. In diesem Kampf ging es nicht ums Leben, sondern um den Tod. Der Magier der Luft hatte den Anblick eines solchen wahnsinnigen Kampfes schon einmal erlebt. Gerade weil er zu seiner Zeit selbst Drachentöter gewesen war, begriff Ritor, was hier vor sich ging. Etwas außerordentlich Seltenes, das nichtsdestotrotz vorkam.
    Und immer noch zeigte sich der Drachentöter nicht.
    »Asmund, Sandra!«, befahl Ritor. »Wir ändern den Plan. Das Ziel ist jetzt das Dach. Ihr beiden, reißt es auf, zum Teufel. Schnell!«
    Nein, das alte Frauenzimmer, Sandra, hatte den Jungen nicht umsonst verführt. Sie verstanden es, zusammenzuarbeiten. Sie schlugen synchron zu, als hätten sie es monatelang trainiert.
    Der Windstoß brach mit Heulen über den durchgedrehten Waggon herein. Die Dachlatten krachten, die blechernen Platten wurden hochgebogen, die soliden Schrauben der Gnome brachen aus den Gewinden wie faulende Fädchen. Der Wind spießte das Metall auf wie ein gigantisches Messer; er riss an der unnachgiebigen Bedachung des Waggons, wie ein Lüstling am Rock eines sich widersetzenden

Weitere Kostenlose Bücher