Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
Brot. Es machte den Eindruck, als ob die Bewohner gerade erst den Raum verlassen hätten.
Aber wohin waren sie gegangen? Es gab noch ein weiteres Zimmer, in dem sich zwei ordentlich gemachte Betten und außerdem ein von innen verschlossenes Fenster befanden. Für alle Fälle sah Viktor unter den Betten und im Schrank nach, in dem nichts als schlichte Kleidungsstücke und weiße Wäsche zu finden war.
»Wo seid ihr alle?«, fragte er und hoffte noch immer auf eine Antwort. »He! Ich bin kein Räuber, kein Dieb! Hallo, ihr Leute!«
Stille. Dampf stieg von der Mahlzeit auf dem Tisch auf, die Hängematte schaukelte. Eine Idylle. Lass dich nieder und lebe. Hier ist keiner mehr.
Und es wird auch keiner kommen.
Plötzlich spürte Viktor, dass das Haus tot war. Getötet. Eine leere Schale, aus der das Leben nachlässig rausgezerrt worden war. Und mit dem violetten Wald war es ebenso. Und mit den gläsernen Bergen. Diese Welt war tot, sie hatte sich in eine grenzenlose Wüste verwandelt. Dies waren alles nur Hinweise für ihn. Er würde nicht mehr aufwachen.
Sein Körper würde am Flussufer vermodern, und er würde hier leben. Für immer.
»Nein«, flüsterte er, »das will ich nicht!«
Er lief zur Tür und stieß beinahe gegen den Alchimisten, der in diesem Moment eintrat. Viktors Freude über den Anblick des rotgesichtigen Kerls war so gewaltig, dass er den anderen um ein Haar umarmt hätte.
»Wohin?«, fragte jener und blickte sich eindringlich im Zimmer um. »Heiße Kartoffelpfanne … na komm, mach Platz …«
Er schob Viktor beiseite und stampfte zum Tisch. Setzte sich auf einen jämmerlich ächzenden Stuhl und begann geradewegs aus der dampfenden Pfanne Pilze und Kartoffeln in seinen gewaltigen Mund zu schaufeln.
»Uh … omm … etz ich …«
»Was?«
»Komm! Setz dich!«, wiederholte der Alchimist, während er kaute. Auch aus seinem Mund stieg Dampf auf. »Ein herrliches Leben, nicht wahr?«
Viktor schwieg.
»Warum mögt ihr Menschen die Einsamkeit eigentlich nicht? Hä?«
Wieder schaufelte er sich eine Handvoll in den Mund. Die Pfanne leerte sich.
»Wie heißt du?«, fragte Viktor.
»Und was nützt dir mein Name? Was willst du damit? Nenn mich, wie du willst …«
Der Dicke setzte den Krug an und trank Milch in großen Schlucken. Weiße Rinnsale liefen über sein von einem Adernetz überzogenes Gesicht und befleckten sein ohnehin schon schmutziges Hemd.
»Ich werde dich Fresssack nennen.«
Der Dicke lachte zufrieden und schluckte glucksend die Milch. Dann schleuderte er den Krug von sich, der wie durch ein Wunder heil blieb, aber auf dem Boden sammelte sich eine kleine Pfütze von der restlichen Milch.
»In Ordnung, nenn mich so. Fressen tue ich wirklich gerne.«
»Warum ist hier niemand?«
Der Fresssack lachte wieder los. »Nein, ich versteh’s nicht! Ich verstehe euch Menschen einfach nicht!«
»Und du, was bist du für einer?«
Aber der Fresssack fuhr fort, sich lustig zu machen. »Wenn du in einer Blechbüchse auf Mutter Erde fällst, dann versteh ich, dass du dir da in die Hosen machst. Und wenn du in einer Metallschachtel sitzt und in eine andere hineinfährst und dabei verbrennst – das ist nicht angenehm. Nein, dafür hab ich wirklich Verständnis! Aber wovor muss man sich hier bitte fürchten? Hä? Du gehst durch ein Wäldchen, freust dich an den Blättchen, kommst an ein Häuschen, alles steht für dich bereit … setz dich, iss und schlaf dich aus … Aber du springst mir fast an den Hals! Merkwürdig seid ihr, sehr merkwürdig …«
»Was hat das alles zu bedeuten?«
»Was willst du? Forderst du eine Antwort von mir?«
»Was geht hier vor?« Viktor hob die Stimme. Der Dicke stieß den Stuhl nach hinten und erhob sich. Finster blickte er Viktor an. Aber der wurde bereits von einer Welle des Zorns übermannt. »Ich frage dich!«
»Aber du musst bitten!«, sagte der Fresssack gedehnt und machte eine ironische kleine Verbeugung. »Bitte mich …!«
»Du Hanswurst!« Viktor machte eine Bewegung mit der Hand. Und wunderte sich keineswegs, als eine glitzernde hellblaue Peitsche aus seiner Handfläche schoss – genau
wie eine Wasserpeitsche. Sie flog, einem Pfeil gleich, auf den Fresssack zu, durchbohrte seine Brust und ergoss sich in einem Schauer blutiger Spritzer auf die Wand.
»Ach … ach …«, stöhnte der Fresssack und fasste sich mit den Händen an die durchbohrte Brust. »Du hast … mich getötet …«
Seine Stimme wurde schwächer, er schwankte und schien jeden
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