Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
…
Die Rückkehr des alten Drachen.
In einer Ecke des Tisches hatte Loj eine hellblaue Marke platziert – hellblau für die Magier des Wassers; nun warf sie eine weitere zwischen die Marke des Wassers und die
der Luft, eine große goldene Marke; die hölzerne Scheibe hüpfte über den Tisch und blieb auf ihrer schmalen Kante stehen.
Loj biss sich auf Lippen. Bloß nicht abergläubisch werden! Was war nur mit ihr los? Wollte sie ihr Schicksal etwa orakeln? Ausgerechnet mit den bunten Spielmarken, die Chor und seine Katzen als Spielgeld beim Kartenspiel benutzten?
Ganz sicher nicht! Ob die goldene Marke jetzt hochkant stand oder von einer Seite zur anderen kippelte, das war ihr egal.
Ritor hegte jedenfalls keinen Zweifel daran, dass sie die Invasion der Angeborenen nur mit Hilfe des Drachen überstehen würden. Und Ritor hatte viel Erfahrung – vermutlich war er der erfahrenste Magier am Warmen Ufer. Er war bereit, die Existenz seines Clans aufs Spiel zu setzen, Hunderte, sogar Tausende von Menschenleben, damit der Drache zurückkehrte.
Und damit jener nicht von einem vollendeten Drachentöter, der alle Weihen bestanden hatte, empfangen würde.
Aber was würden sie mit dem Drachen anfangen, wenn sie den Angriff der Angeborenen mit seiner Hilfe abgewehrt hatten? Wie sahen Ritors Pläne für diesen Zeitpunkt aus? Würden die Geflügelten Herrscher wieder herrschen? Würde es wieder Beschränkungen der Magie, grimmige Gesetze und schwere Tribute und Abgaben geben?
Nein, danke. Davon hatten sie genug. Für immer genug. Nicht umsonst hatten damals alle Clans Ritor geholfen … dem Einzigen, dem zuzutrauen war, dass er die schwierige Aufgabe des Drachentöters erfüllen konnte.
Loj konnte ein wütendes Fauchen nicht unterdrücken. Es gab keinen Ausweg, so oder so sah es schlecht aus. Grimmig
dachte sie an all die alten Sprüche, und jeder einzelne traf zu: Je länger, je ärger, und jeder ist sich selbst der Nächste; spuck nicht in den Brunnen, denn fliegt die Kugel erst 19 , holst du sie nicht mehr zurück.
Vermutlich zum ersten Mal überhaupt befand Loj sich in einer Situation, in der sie selbst keine eindeutige Entscheidung zu treffen vermochte. Bisher hatte sie sich nur um die Interessen ihres Clans kümmern müssen, um seinen Schutz. Sie hatte zusehen müssen, dass sie nicht in irgendwelche Streitereien verwickelt wurden. Dieses Mal fiel ihr offensichtlich die Aufgabe zu, zu entscheiden, wer die besseren Chancen hatte, Ritor oder Torn. Die Waagschalen schwankten noch in einem fragilen Gleichgewicht, aber die kleinste Zugabe auf der einen oder anderen Seite würde den endgültigen Ausschlag geben. Würde Loj Iwer sich in den Kampf einschalten, oder würde sie es, wie sonst auch, den Gegnern überlassen, ihre Verhältnisse unter sich zu klären?
Ganz sicher hätte sie noch bis vor kurzem nach dem Grundsatz gehandelt: »Wenn zwei sich streiten, freut sich die Dritte.« Nicht so diesmal. Ritors Befürchtungen durfte sie nicht ignorieren.
Ebenso wenig wie Torns Überzeugung, dass die Clans allein, ohne Drachen, gegen die Invasoren bestehen konnten. Sie würden nur erst den feindlichen Drachen töten müssen … und zusätzlich auch noch den anderen, wenn es diesem dann tatsächlich einfallen sollte, in der Mittelwelt zu erscheinen …
Loj spürte, dass sie immer verwirrter wurde. Früher half ihr in solchen Situationen immer harmloser, unangestrengter Sex. Jetzt verursachte ihr schon der Gedanke daran Übelkeit.
Der Drachentöter … Wie schade, dass sie so wenig über seine Entstehung wusste. Eifersüchtig hüteten die Elementaren dieses Geheimnis.
Und daraus ließ sich ein simpler Schluss ziehen. Sie musste den zukünftigen Drachentöter aufsuchen und mit ihm reden. Sie musste ihn aushorchen, vorsichtig – immerhin war sie eine Magierin ersten Ranges, wenn auch nur eines totemistischen Clans. Vielleicht konnte sie dann eine Entscheidung treffen.
Schließlich war es ja nicht zwangsläufig so, dass der Drachentöter alle Drachen tötete. Oder dass er sie sofort tötete. Vielleicht würde er das erst später tun.
Chor würde sehr unzufrieden sein, aber da war nichts zu machen.
Sie traf keine langen Vorbereitungen.
Den Drachentöter aufzuspüren würde ihr keine Schwierigkeiten bereiten. Vermutlich führte man ihn auf dem Kanal in Richtung Süden. Das hieß, dass sie ihn dort abfangen konnte. Auf dem Kanal würde Ritor sich nicht zum Angriff entschließen, denn das war Territorium des Wassers. Aber das
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