Drachenpfade - Lukianenko, S: Drachenpfade - Ne wremja dlja drakonow
keine getroffen. Das muss eure Erfindung sein.«
Endlich erschien ein Fuhrwerk auf dem Weg, das Tel mit einem Nicken guthieß. Es war eine Art Planwagen, dessen Bögen im Augenblick nicht von Planen verhängt waren. Ein junger Mann saß auf dem Kutschbock vor dem eingespannten Pferd und lenkte den Wagen, indem er in der einen Hand die Zügel hielt, gleichzeitig Sonnenblumenkerne knackte und mit der anderen Hand in einem abgegriffenen Büchlein blätterte. Der Anblick des Buches rief bei Viktor fast die gleiche unerhörte Gier hervor wie die Zeitungen am Bahnhof. Wie man es auch drehte und wendete, die Tatsache, dass er keine Möglichkeit hatte, etwas zu lesen, blieb nicht ohne Folgen.
»He, he!« Der Junge winkte ihnen freundlich zu. »Wollt ihr mitfahren?«
»Ja, nimm uns mit!« Tel zog Viktor hinter sich her. »Komm schon, schnell!«
Der Junge hatte offensichtlich nicht vor, das Pferd zum Stehen zu bringen, aber der gemächliche Schritt der phlegmatischen Stute stellte kein Hindernis dar. Tel sprang so leicht auf den Wagen, dass der Kutscher beifällig schnalzte. Viktor dagegen lief eine Weile schmachvoll hinter dem Wagen her, ehe er durch die offene Hinterwand hineinkletterte. Entlang der Längsseiten des Wagens standen zwei hölzerne Bänke, dazwischen häuften sich Berge von Heu.
»Wie weit wollt ihr fahren?«, fragte der junge Mann und verzog den Mund zu einem breiten Grinsen. Auf der Anderen Seite würde er als ein ganz gewöhnlicher junger Mann
aus der tiefsten Provinz durchgehen, zumindest, wenn man auf die eisenbeschlagenen Holzräder seines Wagens alte Autoreifen aufziehen würde. Ein ganz normales Fuhrwerk und er selbst ein ganz normaler junger Mann. Er hatte kurzgeschnittene schwarze Haare, ein braungebranntes, grob geschnittenes Gesicht, gekrümmte Schultern und trug einfache, aber saubere Kleidung – alles ganz gewöhnlich.
»Nach Feros«, sagte Tel und lächelte ebenfalls. »Mein Bruder und ich wollen uns als Magier versuchen.«
Was sollte denn das jetzt wieder, mein Bruder und ich?, überlegte Viktor.
»Den ganzen Weg kann ich euch nicht mitnehmen, aber bis zu den Fürstenhöfen gern.«
Viktor versuchte, Tels Aufmerksamkeit durch ein Hüsteln auf sich zu ziehen, aber die war vollauf mit ihrem kleinen Flirt beschäftigt.
»Die Leute sagen, ich hätte Talent. Am Ende wird aus mir wirklich eine Magierin, denk doch nur!«
»Das wäre ja toll! Na, versuch’s nur!« Der Junge legte das Buch zur Seite, ließ die Zügel los, worauf das gehorsame Pferd nicht im Geringsten reagierte, und hielt Tel in der offenen Hand Sonnenblumenkerne hin. »Da, nimm dir welche! Mein Bruder Sascha hat sie geröstet.«
»Danke dir.« Tel setzte sich neben ihn. »Und du, wie heißt du?«
»Wasja.«
»Ich heiße Tel. Hübsch, nicht wahr?«
Mit einiger Fassungslosigkeit betrachtete Viktor dieses Kind der Mittelwelt. Was würde sich ändern, wenn man es auf die Andere Seite versetzte? Vermutlich nichts.
Jetzt wandte sich der Junge an ihn. »Magst du auch? Keine Sorge …« Eine Handvoll Kerne landete in Viktors Handfläche.
Nur geröstete Heuschrecken mochte er vermutlich noch weniger als Sonnenblumenkerne. Aber da half nichts. »Wie nennt man dich, Schweiger?«
»Viktor.«
»Aha. Na, Vitek, knack dir ein paar Kernchen. Ich sag dir – süß wie Zucker!«
»Dürfte ich vielleicht …« Viktor zeigte auf das Buch.
»Kannst du lesen?« Der Tonfall des Jungen war auf einmal nicht mehr nur freundlich, sondern regelrecht vertraulich. »Ich liebe es auch! Nimm nur, aber mach dir vorher die Hände sauber.«
Viktors Ansicht nach hatte das arme Buch nicht mehr viel zu verlieren. Der Papiereinband war so abgewetzt, dass man die Farben nicht mehr erkennen konnte. Auch der Titel war unlesbar geworden. Dennoch rieb sich Viktor gehorsam die Handflächen an den Jeans ab und öffnete das dicke Bändchen an der Stelle, wo ein Strohhalm aus den Seiten herausragte.
Hierher kamen sie nach kurzer Instruktion 21 direkt aus den Zellenversammlungen, sie schritten schweigend dahin, einzeln oder zu zweit, höchstens zu dritt, und jeder von ihnen trug in seiner Tasche ein Mitgliedsbuch mit dem Aufdruck »Kommunistische Partei (Bolschewiki)« oder »Kommunistischer Jugendverband der Ukraine«. Das eiserne Tor konnte nur passieren, wer ein solches Büchlein vorwies. Im Hörsaal hatten sich bereits viele Menschen eingefunden. Der Raum war hell erleuchtet, die Fenster waren mit Segeltuchplanen verhängt. Die versammelten Bolschewiki
Weitere Kostenlose Bücher