Drachenreiter
Aber ich kann nur sagen, so einen Ort hab ich nicht gesehen. Klar, jede Menge weißer Gipfel. Aber keine Drachen. Keine Spur von ihnen.«
»Das, das - kann nicht sein!«, stammelte Ben. »Ich hab das Tal gesehen. Und einen Drachen, in einer riesigen Höhle!«
Lola Grauschwanz guckte ihn ungläubig an. »Wo hast du das gesehn?«, fragte sie. »Im Auge von deinem Dschinn? Nein, glaub mir. Hier gibt es keine Drachen. Klöster, zottelige Kühe, ein paar Menschen, sonst nichts. Gar nichts.«
»Es war ein Tal zwischen weißen Gipfeln, voll mit Nebel. Und die Höhle war wunderschön!«, sagte Ben.
Aber Lola schüttelte wieder nur den Kopf. »Es gibt hier Hunderte von Tälern und so viel weiße Gipfel, dass man verrückt wird, wenn man versucht sie zu zählen. Aber Drachen? Nein. Tut mir Leid. Genau das werde ich auch Onkel Gilbert erzählen. Es gibt ihn nicht, den Saum des Himmels. Und es gibt kein verborgenes Drachental. Das ist alles nichts als ein schönes Märchen.«
DAS KLOSTER
Es war gerade Mitternacht, als Lung wieder den Indus erreichte. Das Wasser glitzerte im Sternenlicht. Das Flusstal war weit und fruchtbar geworden. Ben erkannte Felder und Hütten in der Dunkelheit. Hoch über ihnen, auf der anderen Flussseite, am steilen Hang eines Berges, lag das Kloster. Seine hellen Mauern leuchteten im Licht des abnehmenden Mondes wie weißes Papier.
»Das ist es!«, flüsterte Ben. »Genau so hat es ausgesehen. Ganz genau so.«
Das Flugzeug von Lola Grauschwanz flog brummend an seine Seite. Die Ratte schob das Cockpit auf und lehnte sich zu Ben herüber.
»Na?«, rief sie durch den Propellerlärm. »Ist es das richtige?«
Ben nickte.
Lola klappte zufrieden ihr Dach wieder zu und schwirrte nach vorn. Ihr Flugzeug war viel schneller, als sie gedacht hatten, aber trotzdem war dies für Lung der gemächlichste Flug der ganzen Reise gewesen. Lautlos glitt der Dache über das weite Tal, ließ den Fluss hinter sich und schwebte auf die hohen Mauern des Klosters zu.
Mehrere Gebäude, große und kleine, klebten eng zusammengedrängt am Fels. Ben sah hohe, fensterlose Steinsockel, Wände, die schräg nach oben wuchsen, schmale, dunkle Fenster, flache Dächer, Mauern und Wege, die sich wie Bänder aus Stein die Berge hinunterwanden.
»Wo soll ich landen?«, rief Lung der Ratte zu.
»Auf dem Platz vor dem Haupthaus!«, rief Lola zurück. »Vor diesen Menschen brauchst du dich nicht zu fürchten. Außerdem schlafen um diese Zeit alle. Ich flieg schon mal voraus.« Mit lautem Gesumm verschwand das kleine Flugzeug in der Tiefe.
»Da, seht mal!«, rief Schwefelfell, als Lung über dem Platz vor dem größten Gebäude kreiste. »Da unten ist der Professor!« Der Drache ließ sich sinken.
Eine lange Gestalt erhob sich von den Stufen der Klostertreppe und lief auf Lung zu.
»Du meine Güte, ich hab mir schon Sorgen gemacht«, rief Barnabas Wiesengrund. »Wo wart ihr bloß so lange?« Seine Stimme hallte zwischen den alten Mauern, aber noch rührte sich nichts. Nur ein paar Mäuse huschten über die Steine.
»Ach, wir mussten nur verhindern, dass unser Menschlein im Magen eines Riesenvogels endet«, antwortete Schwefelfell und kletterte mit seinem Rucksack von Lungs Rücken.
»Was?« Der Professor sah erschrocken zu Ben hinauf.
»War nicht so schlimm«, sagte Ben und rutschte an dem Drachenschwanz herunter.
»Nicht so schlimm?«, rief der Professor, als Ben neben ihm stand. »Du bist völlig zerkratzt.«
»Zerkratzt, aber nicht gefressen«, stellte Schwefelfell fest. »Das ist doch was, oder?«
»Na ja, wenn du es so siehst.« Barnabas Wiesengrund machte einen Schritt zurück und trat fast auf das Flugzeug der Ratte.
»He, he!«, rief sie mit schriller Stimme. »Nun mal etwas vorsichtig, großer Mann, ja?«
Überrascht drehte der Professor sich um. Lola Grauschwanz kletterte aus ihrem Cockpit und hüpfte mit einem Plumps vor seine Füße.
»Hab schon viel von Ihnen gehört, Professor!«, rief sie.
»Ach ja? Ich hoffe, nur Gutes.« Barnabas Wiesengrund ging in die Knie und schüttelte der Ratte vorsichtig die Pfote. »Angenehm«, sagte er. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
Lola kicherte geschmeichelt. »Grauschwanz«, antwortete sie, »Lola Grauschwanz, Pilotin, Kartografin und in diesem besonderen Fall: Reiseführerin.«
»Wir hatten uns etwas verflogen«, erklärte Schwefelfell und trat neben die beiden. »Wie ist es dir ergangen, Professor?«
»Oh, wir hatten eine ruhige Fahrt.« Barnabas
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