Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Drachenreiter

Titel: Drachenreiter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cornelia Funke
Vom Netzwerk:
Lung und Schwefelfell im Schatten schliefen, saß Ben oft stundenlang zwischen den uralten Steinen und blickte über den heißen Sand zum Horizont, wo ab und zu ein staubiger Laster vorbeifuhr oder Kamele auf langen, dünnen Beinen durch die Hitze des Tages schwankten. Zu gern hätte er mehr gesehen von diesem fremdartigen Land, aber nur nachts, wenn Lung manchmal ganz tief über die Städte hinwegflog, erhaschte er ein paar Blicke auf Kuppeln, schlanke Türme und flache weiße Häuser, die sich zwischen alten Mauern zusammendrängten.
    Immer lag das Rote Meer zu ihrer rechten Seite. Unter ihnen schlängelte sich die endlose Straße am Fuß einer ebenso endlosen Gebirgskette nach Süden. Dahinter erstreckte sich felsiges, trockenes Land bis zum Horizont. Städte und Dörfer lagen wie Inseln darin. Tiefe Schluchten klafften wie Risse in der Einöde.
    Die Luft war schwer von fremden Düften. Aber in der zweiten Nacht wehten schwarze Schwaden über das Gebirge, hüllten Lung und seine Reiter in stinkenden Dunst und trieben dann über das Meer davon. Auch davor hatte Barnabas Wiesengrund Ben gewarnt. Es waren Rußschwaden und sie kamen von Ölquellen im Osten, die nach einem Krieg wie Fackeln brannten. Kurz bevor die Sonne aufging und das Land mit ihren Strahlen versengte, tauchte Lung in das Wasser des Roten Meeres, um den schwarzen Schmutz abzuwaschen, aber die Schlieren saßen fest auf seinen Schuppen. Fast den ganzen nächsten Morgen putzte Schwefelfell die Flügel des Drachen und säuberte sich schimpfend das buschige Fell. Ben mit seiner glatten Haut hatte es da leichter.
    Als er sich ein frisches T-Shirt aus dem Rucksack holte, stießen seine Finger fast gegen Fliegenbeins Kopf.
    Der Homunkulus konnte sich gerade noch ducken. Seit ihrem Aufbruch verließ er den Rucksack nur, wenn er ganz sicher war, dass alle schliefen. Dann reckte er die schmerzenden Glieder, fing sich Fliegen und Mücken, von denen es in diesem heißen Land zum Glück reichlich gab, und kroch, sobald der erste der drei anderen sich regte, zurück in sein Versteck.
    Er wollte den Zeitpunkt seiner Entdeckung so weit wie möglich hinauszögern. Zu groß war seine Angst vor Schwefelfell und ihrem Misstrauen. Einmal hatte er einen Blick auf die Schuppe geworfen, die der Professor Ben gegeben hatte. Der Junge bewahrte sie in einem Beutel auf, den er um den Hals trug. Fliegenbein hatte hineingesehen, als Ben schlief. In dem Beutel waren noch ein kleines Foto, ein Stein, eine Muschel und ein bisschen von dem Silberstaub aus der Höhle des Basilisken. Die Schuppe stammte ohne Zweifel von Nesselbrands Panzer. Nichts anderes auf der Welt fühlte sich so kalt und hart an. Als Ben sich im Traum bewegt hatte, hatte der Homunkulus sie schaudernd in den Beutel zurückgeschoben und sich neben den Jungen gesetzt. Jedes Mal, wenn die drei anderen schliefen, machte er es so. Er lehnte sich vorsichtig, ganz vorsichtig an die Schulter des kleinen Menschen und las in dem Buch, das der Junge immer aufgeschlagen neben sich liegen ließ. Es war das Buch, das Barnabas Wiesengrund Ben geschenkt hatte, und er las jeden Tag darin, bis ihm die Augen zufielen. Es steckte voller Wunder.

    Alles stand darin, was Menschen wussten über Einhörner und Wassermänner, über den Pegasus, das fliegende Pferd, und den Riesenvogel Rock, der seine Jungen mit Schafen füttert. Auch von Feen erzählte das Buch, von Irrlichtern, Seeschlangen und Trollen.
    Manche Kapitel, wie das über die Steinzwerge, überschlug Fliegenbein. Diese Kerle kannte er zur Genüge. Aber schließlich, am Tag ihrer dritten Rast, als die anderen schliefen und das Licht der Nachmittagssonne alles in gelben Dunst hüllte, stieß Fliegenbein auf das Kapitel über Homunkuli, die künstlichen Wesen aus Fleisch und Blut, geschaffen von Menschen.
     
    Erst wollte er das Buch zuschlagen.
    Er sah sich um. Ben murmelte im Schlaf, aber Schwefelfell schnarchte ruhig wie immer vor sich hin und Lung schlief wie ein Stein.
    Da begann Fliegenbein mit klopfendem Herzen zu lesen. O ja! Dass er ein Herz hatte, wusste er. Aber da stand noch einiges mehr auf den vergilbten Seiten. Ein Homunkulus lebt meist länger als sein Schöpfer, las er. Auch das wusste er. Aber was dann kam, hatte er noch nie gehört. Soweit bekannt ist, kann ein Homunkulus nahezu unbegrenzt leben, es sei denn, er entwickelt eine große Neigung zu einem Menschen. In solchen Fällen stirbt der Homunkulus am selben Tage wie der Mensch, dem er sein Herz geschenkt

Weitere Kostenlose Bücher