Drachenreiter
Schnaufen wurde lauter. Ein seltsames Klirren war aus dem Brunnenschacht zu hören, als ob tausend Eisenringe die rauen Steine hinaufschabten.
Der Professor runzelte die Stirn. Zu welchem Fabelwesen passte das? Es fiel ihm beim besten Willen keines ein und so machte er vorsichtshalber noch einen Schritt zurück. In dem Moment, gerade als der aufgehende Mond hinter schwarzen Wolkenfetzen verschwand, schob sich eine gewaltige, goldgeschuppte Pranke aus dem Brunnen.
Die Tiere blökten und verdrehten die Augen. Sie rissen die Pflöcke, an denen sie angebunden waren, aus dem Sand und schleiften sie hinter sich her in die Wüste. Barnabas Wiesengrund aber stand wie angewurzelt da.
»Barnabas!«, murmelte er zu sich selbst. »Mach, dass du wegkommst, du ellenlanger Dummkopf.« Seine Füße taten einen weiteren Schritt zurück - und rührten sich nicht weiter von der Stelle.
Die dicke Brunnenmauer flog auseinander wie ein Haufen Dominosteine und aus dem Brunnenschacht zwängte sich ein gewaltiger Drache. Seine goldenen Schuppen schimmerten im Mondlicht wie das Kettenhemd eines Riesen. Seine schwarzen Klauen gruben sich tief in den Sand und sein langer, stachelbewehrter Schwanz schleifte rasselnd hinter ihm her. An eins seiner Hörner klammerte sich ein Zwerg mit einem riesigen Staubwedel. Langsam, mit Schritten, von denen die Wüste zu beben schien, stampfte das Ungeheuer auf Barnabas Wiesengrund zu. Seine Augen leuchteten blutrot in der Dunkelheit.
»Duuuu hast etwas, das miiiiir gehört!«, dröhnte die Stimme Nesselbrands auf Barnabas Wiesengrund herab. Der Professor legte den Kopf in den Nacken und blickte genau in den geöffneten Rachen des Ungeheuers.
»So, und was wäre das?«, rief er zu den Speerspitzen Zähnen hinauf. Dabei schob er ganz langsam die Hand in seine hintere Hosentasche, wo neben dem Spiegel eine kleine Schachtel steckte.
»Die Schuppe, du Narr!«, fauchte Nesselbrand. Sein eisiger Atem ließ Barnabas Wiesengrund erschaudern. »Gib mir meine Schuppe zurück oder ich zertrete dich wie eine Laus.«
»Ah, die Schuppe!«, rief der Professor und schlug sich vor die Stirn. »Natürlich. Die goldene Schuppe. Dir gehört sie also. Das ist interessant. Sehr interessant. Aber woher wusstest du, dass ich sie habe?«
»Rede nicht herum!«, brüllte Nesselbrand und setzte eine Pranke vor, sodass die schwarzen Krallen gegen Barnabas Wiesengrunds Knie stießen. »Ich spüre, dass du sie hast. Gib sie dem Zwerg. Los.«
Im Kopf des Professors wirbelten die Gedanken durcheinander. Wie hatte dieses Monstrum ihn gefunden? Was war, wenn es auch wusste, wer die zweite Schuppe hatte? War der Junge in Gefahr? Wie konnte er ihn warnen?
Der Steinzwerg begann hastig an Nesselbrand herunterzuklettern.
In dem Moment machte Barnabas Wiesengrund einen Satz und verschwand unter dem Leib des Riesendrachen. Er rannte auf seine Hinterbeine zu, sprang auf eine der gewaltigen Pranken und klammerte sich an dem schuppigen Panzer fest.
»Komm raus!«, brüllte Nesselbrand. Wütend wirbelte er um die eigene Achse. »Wo bist du?«
Der Zwerg fiel wie eine reife Pflaume in den Sand und warf sich hastig zwischen ein paar Steine, um nicht von seinem wütend umherstampfenden Meister zertrampelt zu werden. Barnabas Wiesengrund klammerte sich fest an Nesselbrands Bein und lachte. »Wo ich bin?«, rief er dem Ungeheuer zu. »Da, wo du mich nicht kriegst, natürlich.«
Nesselbrand blieb schnaufend stehen und versuchte mit der Schnauze an sein Hinterbein zu kommen, aber sein Körper war zu ungelenk. Er schaffte es nur, den Kopf zwischen den Vorderbeinen hindurchzustecken und wütend auf das Menschlein zu starren, das wie eine Zecke an seinem goldenen Körper hing. »Gib mir die Schuppe!«, brüllte Nesselbrand. »Gib sie mir und ich fress dich nicht. Du hast mein Wort.«
»Dein Wort? Oje!« Barnabas klopfte gegen das riesige Bein, an dem er hing. Es klang, als klopfe man gegen einen eisernen Kessel. »Weißt du was? Ich glaube, ich weiß jetzt, wer du bist. Du bist der, den man in den alten Geschichten Nesselbrand nennt, nicht wahr?«
Nesselbrand antwortete nicht. Er stampfte auf, so fest er konnte, damit der Mensch herunterfiel. Aber seine Tatzen versanken nur im Wüstensand und Barnabas hing immer noch an seinem Bein.
»Ja, du bist Nesselbrand!«, rief er. »Nesselbrand, der Goldene. Wie konnte ich die Geschichten über dich vergessen? Ich hätte mich schon damals erinnern müssen, als ich die goldenen Schuppen fand. Du sollst ein
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