Drachenreiter
Immer weiter. Jetzt werden sie höher. Alles wird kahl und leer. Da sind Berge, die ganz seltsam geformt sind wie, wie ...« Aber das Bild änderte sich.
»Der Fluss fließt an einem Haus vorbei«, murmelte Ben. »Kein normales Haus. Das ist ein Palast oder so was.«
Der Dschinn nickte. »Sieh ihn dir genauuuu an«, hauchte er. »Ganz genau.«
Ben tat es, bis das Bild wieder verschwamm. Dann hielt Asif ihm seinen Zeigefinger hin. »Das ist mein zweihundertfünfundfünfzigstes Auge«, sagte er. »Was siehst du darin?«
»Ich seh ein Tal«, sagte Ben. »Es sind neun hohe Berge drum herum, mit schneebedeckten Gipfeln. Sie sind alle fast gleich hoch. Das Tal ist voll Nebel.«
»Guuuut!« Asif blinzelte. Und wieder verschwamm das Bild, wie alle anderen neunhundertneunundneunzig Bilder in seinen Augen, und ein neues erschien.
Ben riss die Augen auf. »Da, da!« Aufgeregt beugte er sich über Asifs riesigen Finger. »Lung, da ist ein Drache! Ein Drache wie du! In einer Höhle. In einer Riesenhöhle!«
Lung holte tief Luft. Unruhig trat er einen Schritt vor. Aber da blinzelte Asif wieder. Und das Bild in seinem zweihundertfünfundfünfzigsten Auge verschwand ebenso wie die anderen. Enttäuscht richtete Ben sich auf. Der Dschinn zog seine Hand weg, legte sie auf sein gewaltiges Knie und strich sich mit der anderen Hand über den langen Schnurrbart.
»Hast du dir genaaauuu gemerkt, was du gesehen hast?«, fragte er den Jungen.
Ben nickte. »Ja«, stammelte er. »Aber, aber ...«
»Voorsicht!« Asif verschränkte die Arme vor der Brust und blickte den Jungen streng an. »Du hast deine Frage gestellt. Hüüüüüüte deine Zunge oder du wirst doch noch mein Diiiiiener.«
Ben senkte verwirrt den Kopf.
Da erhob der Dschinn sich und schwebte leicht wie ein Ballon ein Stück in die Höhe.
»Folge dem Indus und suche die Bilder meiner Augen!«, dröhnte Asif. »Suche sie. Betrete den Palast, der am Berg hängt, und zerschlage das Licht des Mondes am Kopf des steinernen Drachen. Dann werden dir zwanzig Finger den Weg zum Saum des Himmels zeigen. Und Gold wird weniger wert sein als Silber.« Ben blickte sprachlos zu dem riesigen Dschinn auf. Asif lächelte. »Duuuu warst der Erste!«, rief er noch einmal. Dann blähte er sich auf wie ein Segel im Wind und seine Beine und Arme wurden wieder zu blauem Rauch. Asif wirbelte herum, bis Blätter und Blüten in seinem Sog tanzten und er nichts war als eine blaue Rauchsäule. Mit einem Windstoß löste sie sich auf und verschwand.
»Such die Bilder«, murmelte Ben und schloss die Augen.
FLIEGENBEINS ENTSCHLUSS
Lung wäre am liebsten sofort losgeflogen.
Aber die Sonne stand noch hoch am Himmel, und obwohl es in der Schlucht des Dschinns schon wieder dunkel wurde, fehlten noch viele Stunden bis zur Abenddämmerung. Also suchten sie sich einen Platz unten am Fluss, weit entfernt vom Versteck des Dschinns, zwischen den Blättern, die Schwefelfell so gut schmeckten - und warteten auf den Mond. Aber der Drache fand keinen Schlaf. Unruhig ging er am Flussufer auf und ab.
»Lung«, Ben breitete die Karte auf einem Meer von weißen Blüten aus und beugte sich darüber. »Du solltest wirklich schlafen. Bis zum Meer ist es noch ein weiter Weg.«
Lung legte den Hals über Bens Schulter und folgte mit den Augen dem Finger des Jungen über Berge, Schluchten und wüstes Land.
»Da«, erklärte Ben ihm, »da sollten wir auf die Küste stoßen. Siehst du das Zeichen der Ratte? Der Weg bis dorthin macht, glaub ich, keine Probleme. Aber das da«, er strich über das riesige Meer, das sich zwischen der Arabischen Halbinsel und dem Delta des Indus befand, »das macht mir Sorgen. Ich hab keine Ahnung, wo du da landen kannst. Keine Insel weit und breit. Und wir brauchen mindestens zwei Nächte um rüberzukommen.« Er schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung, wie wir das schaffen sollen ohne auf dem Wasser zwischenzulanden.«
Lung blickte erst die Karte und dann den Jungen nachdenklich an. »Wo ist das Dorf, in dem die Drachenforscherin lebt?« Ben tippte auf die Karte. »Da. Genau an der Mündung des Indus. War also überhaupt kein Umweg sie zu besuchen. Und weißt du, wo der Indus entspringt?« Der Drache schüttelte den Kopf.
»Genau im Himalaja!«, rief Ben. »Das passt doch, oder? Wir müssen nur noch den Palast finden, den ich gesehen hab, und dann ...«
»Und dann?« Schwefelfell hockte sich neben die beiden in die duftenden Blüten. »Dann zerschlägst du das Mondlicht auf dem Kopf
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