Drachenritter 01 - Die Nacht der Drachen
Landschaft zu trüben. Brian blickte scharf nach vorne.
»Hallo!« sagte er. »Seht mal, da vorne!«
Er deutete mit dem Finger darauf. Jim schaute. Vor ihnen wuchs jetzt auf dem Damm nur noch ab und zu ein Baum oder eine Buschgruppe, vermischt mit dem hohen Sumpfgras. Irgendwo dort vorne – es war unmöglich genau abzuschätzen, wie weit entfernt – wurde das Gras entlang einer scharfen Linie, die sich quer über den Damm zog und auf beiden Seiten hinaus in den Sumpf führte, niedergedrückt. Hinter dieser Linie sah alles kalt und grau aus, als sähe man es unter einem frostigen Winterhimmel.
»Es bewegt sich in unsere Richtung«, sagte Aragh.
Das tat es.
Jim brauchte ein paar Sekunden, um es zu erkennen, aber wenn man beobachtete, wie sich das Gras bog und wieder aufrichtete, konnte man sehen, daß die Linie, was immer sie auch sein mochte, langsam vorwärtskroch. Es war, als würde eine schwere, unsichtbare Flüssigkeit langsam und zäh über den Damm fließen und die Teiche und Inseln der Marsch überfluten. Jim fühlte, wie ihm, während er zusah, ein Frösteln langsam den Rücken hinaufkroch.
Unwillkürlich hielten Jim und der Ritter an, während sie die Erscheinung beobachteten; und als Aragh das sah, blieb auch er stehen. Er setzte sich und grinste die beiden an.
»Seht mal nach oben, westlich«, sagte er.
Sie gehorchten. Eine Sekunde lang flammte Hoffnung in Jim auf, als er etwas sah, was er für eine Drachengestalt hielt, die etwa vierhundert Fuß über dem Damm auf sie zu segelte. Aber dann registrierte er langsam einen Unterschied. Das war kein Drache, es war von der Größe her mit keinem Drachen vergleichbar, auch wenn es für einen schwebenden Vogel zu groß war. Es hatte etwa die eineinhalbfache Spannweite eines Adlers, aber eine seltsame, kopflastige Silhouette, die eher an einen Geier erinnerte. Jim blinzelte angestrengt zum Himmel, aber die seltsame Dunkelheit der Luft vereitelte seine Bemühung, die fliegende Gestalt in Einzelheiten zu erkennen.
Es kam geradewegs im Gleitflug auf sie zu. Ganz plötzlich, als das Flugwesen näher kam, begann Jim, die Züge dieses klobigen, fremdartigen Kopfes zu analysieren. Bald sah er ihn deutlich – und sein Blick trübte sich, seine Augen weigerten sich, das zu akzeptieren, was sein Gehirn aufnahm. Es war ein riesiger, schwärzlicher brauner Vogel – bis auf den Kopf. Der war der Kopf einer Frau, ihr bleiches Gesicht starrte nach vorne auf Brian und Jim herunter, mit geöffneten Lippen, die spitze weiße Zähne sehen ließen.
»Harpyie!« sagte Brian neben ihm und zog langsam den Atem ein.
Es kam heran.
Bestimmt, dachte Jim, würde es im letzten Augenblick abschwenken; aber es stieß direkt auf die beiden zu. Jetzt sah Jim auch, warum seine Augen sich geweigert hatten, dieses weiße Gesicht zu fixieren. Es war nicht nur, weil es menschlich und weiblich war. Schrecklicher war noch, daß es vollständig wahnsinnig war. Die gefrorenen Züge des Irrsinns standen über den Schwingen des riesigen geflügelten Geschöpfes, das auf sie herabstieß …
Plötzlich war es über ihnen und ging auf Jims Kehle los; alles schien sich in einem einzigen Augenblick abzuspielen.
Ein dunkler Schatten schoß in die Luft und auf die Harpyie zu, gerade bevor sie Jim erreichte. Lange Kiefer knackten ins Leere, wo vor einem Sekundenbruchteil noch das weiße Gesicht gewesen war, und die Harpyie kreischte abscheulich, schlug nach der Seite aus und stieß beinahe den Ritter von Blanchards Rücken, ehe die langen Flügel wieder Luft unter sich hatten, und das Tier nach oben in Sicherheit trugen.
Aragh knurrte leise vor sich hin. Brian richtete sich im Sattel wieder auf. Die Harpyie, deren Stoß fehlgegangen war, flog nun fort von ihnen, durch die Luft zum Turm zurück.
»Ihr hattet Glück, daß der Wolf sie verjagte«, sagte Brian nüchtern. »Ihr Biß ist giftig. Ich gebe zu, dieses Höllengesicht hat mich völlig erstarren lassen und in seinen Bann geschlagen.«
»Sie soll es nur noch einmal versuchen«, sagte Aragh angriffslustig. »Zweimal beiße ich nicht daneben.«
Eine Stimme drang zu ihnen, die aus dem stillen Sumpfwasser zu ihrer Linken herauswinselte.
»Nein! Nein! Kehrt um, Ehrwürden! Kehrt um! Es ist sinnlos. Dort oben erwartet Euch alle der Tod!«
Sie wandten die Köpfe.
»Verdammt noch mal!« rief Brian aus. »Das ist doch Euer Teichdrache.«
»Nein«, sagte Aragh, während er mit der Nase die Witterung prüfte. »Ein anderer. Verschiedener
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