Drachenritter 01 - Die Nacht der Drachen
seine steifen Muskeln, und das Gras war weich. Er war fast den ganzen Vormittag gewandert und geschwommen, und die mittägliche Stille war entspannend. Er fühlte sich behaglich. Er ließ den Kopf auf die Vorderpranken fallen und nickte ein wenig ein … Er wurde von Gesang geweckt. Er hob den Kopf und blickte sich um. Jemand kam den Damm entlang. Jim konnte jetzt das trockene Klappern von Pferdehufen auf der festen Erde hören, das Klingeln von Metall, das Knarren von Leder, und darüber eine schöne Baritonstimme, die fröhlich vor sich hinschmetterte. Jim hatte keine Ahnung, wie die früheren Zeilen des Liedes gelautet hatten. Aber der Refrain, den er jetzt vernahm, drang deutlich an sein Ohr:
»… Ein guter Speer, ein fester Sinn
Ein treues Schwert, das klingt.
Die Drachen aus dem Teich soll'n seh'n,
Was Neville-Smythe vollbringt!«
Die Melodie war so eingängig, daß Jim sie eventuell schon früher gehört haben konnte. Er versuchte immer noch, sich darüber klar zu werden, ob er sie wirklich kannte oder nicht, als Zweige knackten. Eine Wand von Büschen, etwa sechs Meter entfernt, teilte sich und entließ einen Mann in voller Rüstung, mit offenem Visier und einem einzelnen, flatternden roten Wimpel gerade unter der Spitze seiner aufrechten Lanze; er saß auf einem großen, etwas ungeschlacht wirkenden weißen Pferd.
Interessiert setzte sich Jim auf, um besser sehen zu können.
Wie sich herausstellte, war das nicht die beste Idee. Der Mann auf dem Pferd sah ihn sofort, das Visier klirrte herunter, die lange Lanze schien in die Hand mit dem eisernen Rüsthandschuh zu springen, ein Aufblitzen der goldenen Sporen, und das weiße Roß fiel in einen schwerfälligen Galopp, direkt auf Jim zu.
»Ein Neville-Smythe! Ein Neville-Smythe!« dröhnte es gedämpft innerhalb des Helms.
Jims Reflexe gewannen die Oberhand. Er ging geradewegs in die Luft, die steifen Flugmuskeln waren vergessen, und wollte sich schon vorwärts auf die nahende Gestalt stürzen, als ihn die Vernunft für den Bruchteil einer Sekunde wie ein kalter Finger berührte, und er sich statt dessen in die oberen Zweige des Baumes schwang, der ihm soeben noch Schatten gespendet hatte.
Der Ritter – dafür hielt ihn Jim jedenfalls – riß sein Pferd so stark zurück, so daß es auf den Hinterbacken direkt unter den Baum schlitterte; dann blickte er durch die Zweige zu Jim hinauf. Jim blickte zurück. Der Baum hatte recht hoch ausgesehen, als er noch daruntergestanden war. Jetzt, da er mit seinem ganzen Drachengewicht oben hockte, knackten die Zweige bedenklich unter ihm, und er war nicht so hoch über dem Kopf seines Angreifers, wie er es gerne gewesen wäre.
Der Ritter schob sein Visier hoch und legte den Kopf zurück, um besser hinaufsehen zu können. Im Schatten des Helms erkannte Jim ein gutgeschnittenes, ziemlich schmales Gesicht mit brennenden blauen Augen über einer großen Hakennase. Das Kinn war vorspringend und üppig.
»Komm herunter!« sagte der Ritter.
»Nein, danke«, erwiderte Jim und klammerte sich mit Schwanz und Klauen fest an den Baumstamm.
Eine kleine Pause folgte, während beide die Situation verarbeiteten.
»Verdammter Feigling von einem Teichdrachen«, sagte schließlich der Ritter.
»Ich bin kein Teichdrache.«
»Rede keinen Unsinn!«
»Ich bin aber keiner!«
»Natürlich bist du einer.«
»Ich sage doch, ich bin keiner!« sagte Jim und fühlte, wie sich sein Drachentemperament zu regen begann. Er beherrschte es und sprach vernünftig weiter. »In der Tat möchte ich wetten, daß Ihr nicht erraten könnt, wer ich in Wirklichkeit bin.«
Der Ritter schien nicht daran interessiert zu sein, zu wetten, wer Jim wirklich war. Er stellte sich in seinen Steigbügeln auf und stocherte mit seiner Lanze in den Zweigen herum, aber die Spitze verfehlte Jim um gut eineinhalb Meter.
»Verdammt!« sagte der Ritter enttäuscht. Er senkte die Lanze und schien einen Augenblick nachzudenken. »Wenn ich meine Rüstung ablege«, sagte er anscheinend zu sich selbst, »kann ich auf diesen gottverdammten Baum klettern. Aber was ist, wenn er herunterfliegt und ich dann schließlich doch auf dem verfluchten Gras mit ihm kämpfen muß?«
»Hört einmal«, rief Jim, »ich bin bereit herunterzukommen« – der Ritter blickte begierig auf –, »vorausgesetzt, daß Ihr zuerst bereit seid, ohne Vorurteile anzuhören, was ich zu sagen habe.«
Der Ritter überlegte.
»Einverstanden«, sagte er schließlich. Er schwenkte warnend
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